Streitschrift oder Schmähschrift?

Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift“ – so lautet der Titel des 2014 erschienen Buchs von Konrad Paul Liessmann (Wien: Zsolnay). Eine Streitschrift zeichnet sich laut Wikipedia (hier nachzulesen) dadurch aus, dass sie scharfe Kritik an herrschenden Positionen unter anderem in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft übt. Sie „provoziert, sie übertreibt, spitzt zu und kann sogar beleidigen. Es geht ihr nicht um sachliche Argumentation, sondern um engagierte Parteinahme für eine Sache, um Kritik und Ablehnung […].

Diese Kriterien erfüllt das Buch und damit die Erwartung, wenn man eine „Streitschrift“ liest: Liessmann rechnet ab – mit PISA und Bologna, mit Kompetenzen und PowerPoint, mit dem Internet und der Wirtschaft, um am Ende bei der „Schönheit des Nutzlosen“ zu landen. Wer nach Rezensionen von Liessmanns Streitschrift sucht, merkt rasch: Das Buch polarisiert, was aber natürlich zum Wesen einer Streitschrift gehört: Auf socialnet. (hier) rät der Rezensent vom Lesen eher ab, auf den nachdenkseiten (hier) hofft man darauf, dass die Lektüre Lust zum Widerstand weckt.

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Was ist aufwändiger als Zählen? Lesen!

Ja, ich habe mich schon oft für das Open Peer Review stark gemacht (dazu z.B. ein Beitrag im GMW-Jahresband von 2010 hier auf den Seiten 218-229). Und ja, die bisherigen eigenen Versuche waren nicht erfolgreich: Mit Christian Spannagel gab es mal den Versuch, eine Art informelle Review-Plattform aufzubauen – hat aber nicht funktioniert, und unsere Erkenntnis war damals, dass eine solches öffentliches gegenseitiges Begutachten nur im Zusammenhang mit einer Zeitschrift sinnvoll ist. Mit iTeL (siehe hier) haben wir dann genau so einen Versuch gestartet, aber auch hier sind die Probleme noch zu groß und der Weg offenbar noch nicht der richtige, um das heute gängige Peer Review-Verfahren zu verbessern. Unterschätzt habe ich unter anderem das Problem, das entsteht, wenn Beiträge z.B. handwerklich verbesserungsbedürftig sind. Die dann erforderlichen Rückmeldungen können in einem Open Peer Review peinlich wirken, schrecken vor allem weniger erfahrene Autor/innen ab und bringen Leser/innen freilich auch wenig. Ich hatte wahrscheinlich zu sehr an die (spannenderen) Fälle gedacht, in denen es nicht (nur) um sprachliche und formale Probleme und andere handwerkliche Mängel geht, sondern um inhaltliche Auseinandersetzungen, um den Streit zwischen verschiedenen Auffassungen, aus denen dann Ablehnungsgründe generiert werden. Und genau das nämlich würde durch ein öffentlich sichtbares Review eher zu einem interessanten Diskurs führen und weniger zu einseitigen Selektionsmechanismen.

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Widerstand und Dialog

Wie sieht die Universität, wie sehen die Hochschulen in der Welt in zehn, zwanzig Jahren aus und was, so eine weitere Frage, wäre wünschenswert? Mit diesen Fragen beginnt Dieter Lenzen ein gerade erschienenes schmales Bändchen (von knapp 100 Seiten) mit dem Titel: Eine Hochschule der Welt. Plädoyer für ein Welthochschulsystem (2015 Wiesbaden: Springer VS).

Ausgangspunkt der Argumentation ist der Globalisierungsprozess, der zurzeit in hoher Geschwindigkeit erfolge, „ohne dass demokratisch legitimierte Organisationen ihn international steuern würden“ (S. 9). Vor dem Hintergrund dieses Globalisierungsprozesses arbeitet Lenzen drei große (Hochschul-)Bildungssysteme heraus, nämlich das kontinentaleuropäische, das atlantische und das ostasiatische.

Um die drei Systeme zu verstehen, führt Lenzen zum einen ausführlicher aus, wie sich in diesen das Verhältnis von Berufsbildung und Hochschulbildung darstellt und inwiefern hier speziell Deutschland eine besondere Situation (nämlich eine starke duale Berufsausbildung) vorweist. Zum anderen widmet er sich dem Verhältnis von Forschung und Lehre, denn auch hier zeichnet sich vor allem das deutsche System dadurch aus, dass Forschung integraler Bestandteil des Hochschulverständnisses, also nicht auf „research universities“ beschränkt ist. Zudem geht Lenzen genauer auf die Genese der drei Systeme ein, deren Analyse vor allem zeige, dass sie gleichzeitig durch Konvergenzen und Divergenzen charakterisiert sind (S. 41). Im Verlauf des Buches zieht Lenzen insgesamt sechs Kategorien heran, anhand derer er die drei Bildungs- inklusive Wissenschaftssysteme und deren dahinter liegenden universitären Grundkonzepte mit Blick auf diese Konvergenzen und Divergenzen vergleicht: die Theorie der Universität – der Bildungsbegriff – der Hochschulzugang – die Hochschulautonomie und akademische Freiheit – die Differenzierung im postsekundaren System – die Hochschulfinanzierung.

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(K)eine Crash-Methode

Wie bekommt man am besten Zugang zu Wissenschaft und Forschung? Ist forschendes Lernen (im eigentlichen Sinne, also: selber forschen) möglichst früh im Studium der beste Weg? Es gibt gute Gründe, die dafür sprechen; es gibt viele Erfahrungen, die zeigen, dass das auch sehr schwierig ist. Klar aber scheint zu sein: Wer in die Forschung als Studierender im ersten und zweiten oder auch dritten und vierten Semester einsteigt, braucht Unterstützung, braucht Anforderungen, die zu bewältigen sind, und das verlangt nach einem Einstiegsniveau, das einerseits die Grundsätze von Forschung beibehält, andererseits aber auch nicht völlig frustriert. Man kann allerdings auf dem Standpunkt stehen, dass studentische Forschung zu Studienbeginn immer scheitern muss – das ist gewissermaßen die Crash-Methode (also kein Crash-Kurs, sondern ein bewusster Kollisionskurs). Ich halte das motivationspsychologisch nicht für sinnvoll und auch nicht für nötig: Im Gegenzug aber ist wohl die Haltung erforderlich, dass studentische Forschung zu Studienbeginn nicht perfekt sein muss, aber erstmals eine Idee davon vermitteln sollte, was es heißt, zu forschen.

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Selber etwas bewirken

Seit Dezember 2014 gibt es das Themenheft zum Übergang von der Schule zur Hochschule bei der Zeitschrift für Hochschulentwicklung (hier). Die Inhalte der Beiträge reichen u. a. von fachspezifischen Fragen studentischer Erwartungen über Maßnahmen für einen besseren Einstieg in ein wissenschaftliches Studium bis zu psychologischen Voraussetzungen zu Studienbeginn. Auf einen Beitrag möchte ich an der Stelle besonders hinweisen – den von Brahm, Jenert und Wagner zur „subjektiven Wahrnehmung des Übergangs Schule – Hochschule“. Der Text (hier online) berichtet über die Ergebnisse einer empirischen Studie an der Universität St. Gallen und damit (so die eigene Bezeichnung) an einer Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften sowie Internationale Beziehungen, was bei der Interpretation der Ergebnisse zu beachten ist.

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Obsessive Strenge

“Knowledge Creation in Design-based Research Projects: Complementary Efforts of Academics and Practitioners”, so lautet der Titel eines Textes von Brent G. Wilson (online hier) – offenbar die Schriftfassung eines Vortrags auf einer Tagung der American Educational Research Association (Philadelphia) im April 2014.

Wilsons Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Lehr-Lernpraxis ein komplexes Feld ist – eine „hard-to-do-science“ – und sich daher der „Strenge“ (rigor) all jener an den Naturwissenschaften angelehnten Methoden widersetzt, die heute die Bildungswissenschaften dominieren: “Education is a messy field of inquiry – in David Berliner’s (2002, p. 18) words, the ´hardest science of all.´ In a field full of ´wicked,´ intractable problems and nested layers of complexity, dogmatism about research methods is surely the last thing needed. Yet in messy fields, insecurity often leads to a ´scrupulosity´ toward method, that is, an unhealthy, near-obsessive attention to rigor and orthodoxy and adherence to prescriptive rules, in an attempt to over-compensate for obvious shortcomings in our ability to understand and control outcomes.” (p. 1)

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Der Kultur oder dem Lernenden verpflichtet?

„Bildung durch Wissenschaft. Skizze einer universitären Wissenschaftsdidaktik“. Das ist der Titel eines online hier zugänglichen Dokuments – entstanden im Rahmen des Projekts „KOSMOS – Konstruktion und Organisation eines Studiums in offenen Systemen“ und verfasst von Wolfgang Nieke und Konstantin von Freytag-Loringhoven.

Das Dokument ist allein schon deswegen interessant, weil es den Vorschlag einer Wissenschaftsdidaktik aufgreift, wie er 1969 auf einer Tagung an der Universität Bielefeld vor allem von Hartmut von Hentig formuliert worden ist (erschienen sind die Tagungsergebnisse in der Zeitschrift „Neue Sammlung“ im Jahr 1970 unter dem Titel „Wissenschaftsdidaktik“, herausgegeben von Hartmut von Hentig, Ludwig Huber und Peter Müller).

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Zehn Jahre … dranbleiben!

Meine Aufsätze zu Design-based Research bzw. zur entwicklungsorientierten Bildungsforschung stelle ich seit einiger Zeit in einem Reader mit Preprints zusammen. Aktuell ist ein Beitrag für einen Band des Bundesinstituts für Berufsbildung in Druck. Aus diesem Anlass habe ich den Reader aktualisiert. Die neue Fassung steht hier online zur Verfügung bzw. ist hier direkt als pdf abrufbar. Wenn der Beitrag (hoffentlich) 2015 erscheint, feiert DBR bei mir persönlich sozusagen 10-jährigen Geburtstag ;-).  Nach wie vor ist diese Forschungsstrategie in der Bildungswissenschaft noch nicht etabliert, aber bei weitem mehr im Gespräch und in Aktion als noch 2005, zum Zeitpunkt meines ersten Aufsatzes in der Unterrichtswissenschaft. Da heißt es wohl für 2015 und darüber hinaus: Dranbleiben!

Prüfungen – ernsthaft …

Das Thema Prüfungen beschäftigt mich immer wieder: Ich bin davon überzeugt, dass hier ein rechtliches, politisches und didaktisches Problem gleichermaßen vor uns liegt. Und so lange wir uns mit diesem nicht ernsthaft beschäftigen (und sei es „nur“ in Gedankenexperimenten – siehe hier -, die ernsthafter sind als mancher vielleicht meint) und auch ins Kalkül ziehen, Grundlegendes zu verändern, werden wir es mit didaktischen Konzepten jenseits der Vorlesung und des Referat-Seminars weiterhin schwer haben. Im Herbst/Winter 2014 habe ich das Prüfungsthema gleich zweimal in Form von zwei Artikeln (für Herausgeberbände, die 2015 erscheinen) bearbeitet: einmal grundsätzlich mit Fokus auf der „Kompetenzorientierung“ (dem ging ein Vortrag in Berlin voraus) und einmal spezifisch im Hinblick auf forschendes bzw. forschungsnahes Lernen. Aus diesem Grund möchte ich auch beide an dieser Stelle noch einmal zusammen als Preprint online verfügbar machen, weil sie gewissermaßen aufeinander aufbauen.

Artikel_Pruefungen1_Berlin_Okt_14_Preprint

Artikel_Pruefungen2_ForschendesLernen_Dez14_Preprint

 

Wir sind angekommen

Ertappt: Ich mag das Warten nicht, ich ärgere mich, wenn ich mal wieder viel zu lange auf den Zug, auf die S-Bahn oder auf eine Entscheidung warten muss, bis ich in einem Vorhaben den nächsten Schritt gehen kann. „Was gibt es Nutzloseres als Warten?“ (Dörpinghaus & Uphoff, 2012, S. 115) Genau! Aber: Wenn man Zeit und Bildung zum Gegenstand eines Buches macht (Quelle: Dörpinghaus, A. & Uphoff, I. K. (2012). Die Abschaffung der Zeit. Wie man Bildung erfolgreich verhindert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.), dann kommen eben doch andere Sichtweisen zum Vorschein:

Warten sehen wir heute als Zeitverschwendung an, was konsequent ist, wenn in unserem „Lebenszeitorganisationssystem“ Zeit nur noch als Ressource gilt. Man könne, so die Autoren, Warten aber auch als Entlastung deuten, was keineswegs einfach ist: „Gerade weil das Warten gegen den Druck der Zeit gerichtet ist, widerstrebt es mehr, als auf den ersten Blick angenommen und ist womöglich deshalb so wenig erwünscht. Der Wille will nichts und dadurch werden wir in unserem Denken freigestellt.“ (S. 117). Warten, Pausen, Wiederholung – alles, was sich dem Zeitregime von heute entgegenstellt, kann eine Bedingung für Bildung sein: „Im Moment der Verzögerung – im Warten, Pausieren und Wiederholen – entstehen Spielräume für Bildungsprozesse …“ (S. 123).

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