Eine Kultur mangelnden Respekts

Nachdem mich Liessmanns „Praxis der Unbildung“ (siehe hier) ziemlich enttäuscht hatte, lag das scheinbar in eine ähnliche Richtung gehende Buch „Der Akademisierungswahn“ von Julian Nida-Rümelin (Nida-Rümelin, J. (2014). Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher Bildung und akademischer Bildung. Hamburg: edition Körber-Stiftung.) eine Weile ungelesen herum – zu Unrecht, wie sich herausstellte. Das Buch greift aus meiner Sicht ein hoch relevantes Thema auf und erörtert es differenziert – jenseits einer platten Polemik – und konstruktiv, also mit Vorschlägen für ein Abwenden riskanter Trends in der Bildungspolitik.

Ausgangspunkt von Nida-Rümelins Argumentation ist ein „verhängnisvoller bildungsökonomischer Irrtum“: Er sieht diesen in der hartnäckigen, aber falschen bildungsökonomischen These, es sei notwendig, den Akademikeranteil unbegrenzt auszuweiten. Er belegt diese seine Einschätzung mit Statistiken und anderen empirischen Studien (etwa die geringe Jugendarbeitslosigkeit in Ländern mit einer dualen Berufsausbildung) und begründet sie mit bildungsphilosophischen Argumenten. Auf dieser Basis erläutert er in zwei weiteren Kapiteln zum einen die Krise der beruflichen Bildung und zum anderen die Krise der akademischen Bildung. Der Lösungsansatz, den der Autor favorisiert, setzt darauf, den verschiedenen Bildungswegen – den beruflichen und den akademischen – gleichen Respekt zu zollen und die praktische Dimension der Bildung zu rehabilitieren. Eine gute inhaltliche Zusammenfassung des Buches liefert die Rezension von Jos Schnurer (hier) auf socialnet.

Nida-Rümelin verfolgt ein humanistische Bildungs- und Wissenschaftsideal und spricht sich keineswegs gegen eine Verwissenschaftlichung beruflicher Bildung oder gar gegen mehr Bildung aus. Allerdings sieht er die Zukunft eben nicht in immer mehr universitären Studiengängen für immer mehr Berufe oder immer mehr Theorie für nichtakademische Berufstätigkeit, sondern darin, auf allen, auch den beruflichen, Bildungswegen die eigene Urteilskraft zu schärfen und eigene Entscheidungen von vorgegebenen Regelsystemen zu emanzipieren (S. 94) – also: mehr Persönlichkeitsbildung in die berufliche Bildung bringen anstatt mehr (scheinbar) berufsqualifizierende Studiengänge aus dem Boden stampfen. Vielfalt und Respekt – diese Aufforderung findet sich mehrfach im Buch. „Die aktuellen Nivellierungstendenzen (alle sollten danach streben, eine Hochschulreife zu erwerben und zu studieren; prüfbare und erlernbare Kompetenzen als zentrales Steuerungsinstrument sollen die ganze Vielfalt von Bildungsinhalten ersetzen; die Unterschiedlichkeit nationaler Bildungstraditionen muss verschwinden) sind auch Ausdruck einer Kultur mangelnden Respekts“ (S. 131 f.).

Was Nida-Rümelin über die negativen Folgen des Akademisierungswahns für die akademische Bildung ausführt, kann ich im Großen und Ganzen sehr gut nachvollziehen. Dazu nur ein paar Ausschnitte:

  • „Die moderne Europäische Universität beruht […] auf humanistischen Bildungsidealen, nimmt von der berufsbildenden mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universität Abschied und stellt das Erkenntnisinteresse und die Idee der Persönlichkeitsbildung durch Forschung in den Mittelpunkt“ (S. 147).
  • „Die strikte Trennung wissenschaftlicher Grundlagenforschung, die zweckfrei zu geschehen hat, von deren Fruchtbarmachung, etwa in Technik und Ökonomie, lässt sich immer weniger aufrechterhalten. […] Die Wissenschaft hat zunehmend also auch eine externe Verantwortung, sodass das interne Ethos epistemischer Rationalität durch ein externes Verantwortungsethos komplettiert werden muss“ (S. 150).
  • „Universitäten sind definiert als Einrichtungen, an denen sowohl geforscht als auch gelehrt wird und an denen eine Einheit von Forschung und Lehre im Sinne eines wechselseitigen Bestimmungsverhältnisses besteht: An den Universitäten sollte alle Forschung in der einen oder anderen Form auch in die Lehre einfließen, also für Studienangebote relevant sein“ (S. 157 f.).
  • Dem Scheitern des Bologna-Prozesses widmet Nida-Rümelin ein ganzes Kapitel und erläutert des anhand von fünf Irrtümern bzw. Fehlentwicklungen – mit dem Fazit: „Das hohe Maß an Bürokratisierung und Verschulung, das gegenwärtig mit der Umstellung auf modularisierte Studiengänge auch in denjenigen Fächergruppen zu beobachten ist, die bislang wenig strukturiert waren, die in hohem Maße auf Selbststudium setzten und die Leistungskontrolle erst gegen Ende des jeweiligen Studiums vorsahen, behindert sogar gegenwärtig ganz offenkundig die größere Vernetzung, den Austausch von Studierenden in Europa und damit die europäische Bildungsintegration“ (S. 172).
  • Die unterschiedlichen Reaktionen und Strategien mit dem Umgang des Bologna-Prozesses führt Nida-Rümelin unter anderem auf verschiedene Wissenschaftskulturen zurück, und so kommt er zu dem Schluss: „Die aktuelle Krise der akademischen Bildung ist zu einem großen Teil der Rücksichtslosigkeit geschuldet, mit der über die Unterschiedlichkeit der Fächerkulturen hinweggegangen wurde“ (S. 176). „Es sind nicht die Ziele der Bologna-Reform als solche, sondern es ist der Versuch zu kritisieren, zu nivellieren und zu normieren, die Unterschiedlichkeit der Fächerkulturen einzuebnen, die mit der Humboldt-Universität aufgegebene Berufsorientierung auch dort wieder durchzusetzen, wo diese der betreffenden Fachkultur fremd ist […] und die Reform vor allem auch unter dem Aspekt der Verkürzung des Studiums anzugehen“ (S. 179).

Und wer jetzt Interesse entwickelt hat, dem empfehle ich guten Gewissens die Lektüre ;-).

 

 

5 Gedanken zu „Eine Kultur mangelnden Respekts“

  1. Das klingt gut! Was mir nach Sichtung deines Blogbeitrags und auch der Rezension von Schnurer zentral erscheint, sind neue Überlegungen zur sog. Theorie und sog. Praxis. Was ist das eigentlich, „Theorie“ und „Praxis“, was ist die Idee, in welchen Verhältnis stehen die Ideen? Warum spreche ich im Plural? Was sind die Metaphern hinter diesen Begriffen (weißer Kragen, Blaumann…)? Gibt es eine Praxis des Theoretisierens oder eine Theorie des Praktizierens? Als ich vor 20 Jahren an der Sporthochschule studierte, hatte ich z.B. von 8 bis 10 Turnen, von 10 bis 12 Anatomie und später am Tag haben wir über den Körper philosophiert. Ich fand das gut obwohl ich nicht so recht wusste, was ich auf die Frage antworten sollte, ob wir nun Praxis oder Theorie machen. Alles war Erkundung, die Modi bzw. Zugänge wechselten über den Tag und die Wirkungen überlagerten sich im eigenen Kopf. Blaumann mit weißem Kragen, geht.

  2. Dazu ein Beitrag von Nida-Rümelin in ‚Forschung & Lehre 01/15‘ – jetzt frei online verfügbar:
    Akademisierungswahn – Plädoyer für eine Umkehr der Bildungspolitik
    http://www.wissenschaftsmanagement-online.de/system/files/downloads-wimoarticle/1501_WIMO_Nida-R%C3%BCmelin_Akademisierungswahn.pdf
    … und …
    Reinhold Schairer schrieb bereits 1932 im Vorwort zu ‚Die akademische Berufsnot‘:
    „Die Rettung kann alleine die Einreihung der Überzähligen in die Zahl der sinnvoll Tätigen und Wirkenden und die planmäßige Verhütung künftiger Überzähligenmassen sein.“

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