Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Ludwik Fleck – Kreativ, widerspenstig und gefährlich

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Zwischen dem sechsten und dem letzten Aufsatz von Ludwik Fleck im Band „Erfahrung und Tatsache“ mit dem Titel „Krise in der Wissenschaft. Zu einer freien und menschlicheren Naturwissenschaft“ gibt es zeitlich einen etwas größeren Sprung. Fleck hat den Text 1960 verfasst, er wurde aber erst posthum veröffentlicht. Die Kommentare zu den anderen Texten finden sich hier, hier, hier, hier, hier, und hier (zum Verfahren siehe hier).

Der Aufsatz ist vergleichsweise kurz und enthält etliche Passagen, die aus meiner Sicht zusammenfassenden Charakter haben (zusammenfassend mit Blick auf die anderen Texte im Band). Er bekräftigt noch einmal, dass Erkenntnis eine Relation sei „zwischen dem individuellen Subjekt, dem bestimmten Objekt und der gegebenen Denkgemeinschaft (Denkkollektiv), indem das Subjekt handelt …“ (S. 177), und fasst (frühere Arbeiten) so zusammen: „Ich habe versucht, aufzeigen, wie der Denkstil nicht nur die Entwicklung komplexer Ideen, Probleme und Standards bestimmt, sondern selbst auch die Inhalte und die Begrenzungen einer Beobachtung. […] Ich habe versucht, die allgemeine Struktur und Zusammensetzung des `Denkkollektivs´ (Zentrum, Peripherie; Elite, Öffentlichkeit; Autorität, Gläubige) und seine Wirkung auf die Entwicklung einer gemeinschaftlichen Stimmung zu analysieren, die zu einem gemeinschaftlichen Denkstil führt“ (S. 178).

Zentral schließlich erscheint mit folgender Satz (was im sechsten Text bereits vorbereitet worden ist): „Zwischen dem Subjekt und dem Objekt gibt es ein Drittes, die Gemeinschaft. Es ist kreativ wie das Subjekt, widerspenstig wie das Objekt und gefährlich wie eine Elementargewalt“ (S. 178 f.). Fleck bezeichnet diese Vorstellung als „Drei-Komponenten-Modell“ und sieht darin die Grundlage für eine neue Disziplin – eine „Soziologie des Denkens“ (S. 179) – die in den 1960er Jahren international betrachtet wohl an vielen Stellen (unter leicht anderen Bezeichnungen) entstanden ist. Fleck führt das an dieser Stelle nicht nochmal genauer aus, ergänzt aber seine Erwartung an eine „Soziologie des Denkens“: Zunächst einmal würde die „demoralisierende Kluft zwischen Theorie und Praxis im wissenschaftlichen Leben“ (S. 179) verschwinden. Sodann würde die Beziehung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften enger und die Naturwissenschaft damit „menschlicher“ werden. Vielleicht würden die Wissenschaftler auch mit ihren Konzepten „kühner“ werden, Wahrheit würde eine „kreative menschliche Wahrheit“ werden (S. 180).

Gleichzeitig lässt einem der Text auch einen gewissen Pessimismus spüren, etwa wenn Fleck gleich zum Einstieg feststellt: „Es ist unzweifelhaft, daß die Wissenschaft zur Gehilfin von Politik und Industrie wird, zum großen Schaden ihrer kulturellen Mission“ (S. 175). Man könnte diesen Satz heute als aktuelle Beobachtung vermutlich fast wörtlich verwenden – über ein halbes Jahrhundert später.

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