Große Verunsicherung

In vielen Blogs hat es sich eingebürgert, sich untereinander in Kommentaren mit „du“ anzureden. Ich habe überhaupt kein Problem damit – im Gegenteil: Ich finde das gut, warum auch nicht. Nun passiert es mir immer häufiger, dass ich Leuten in Workshops oder auf Tagungen begegne, die mein Blog kennen, ja, die manchmal auch kommentieren (auch wenn das letztlich nur wenige sind). Dann ist die Verunsicherung plötzlich groß: Wie ist das? Darf man jemanden einfach mit „du“ in der physischen Realität ansprechen, wenn man das z.B. in Kommentaren in der Blogosphäre bereits gemacht hat? Vielleicht sind ist diese ungeklärte Frage der Grund dafür, dass manche Kommentatoren die Entscheidung einfach umgehen und weder ein „Sie“ noch ein „du“ verwenden, sondern das schlicht offen lassen. Das hat dann im realen Raum den Vorteil, dass die genannte Verunsicherung nicht eintritt. Ich passe mich meistens an, habe ich gemerkt: Spricht mich jemand mit „du“ an, ist das gut und ich mache es genauso – aufatmend, dass der/die andere die Entscheidung getroffen hat. Spricht man mich mit „Sie“ an, bleibe ich auf dieser Ebene. Also, es ist, wenn man länger darüber nachdenkt, nicht so ganz unkompliziert – das stimmt schon. Deswegen versuche ich es mal in meinem Fall weniger kompliziert zu MACHEN und stelle klar: Es ist völlig in Ordnung und nur konsistent, wenn ein Du in der Blogosphäre auch im realen Raum fortgesetzt wird – egal, in welcher „formalen“ Beziehung jemand zu mir steht. Es wäre aus meiner Sicht unpassend, nach dem Motto zu verfahren: dem „Kollegen“ ist das erlaubt, einem Mitarbeiter vielleicht und dem Studierenden nicht. Also: keine Sorge – ich spiele keine zwei verschiedenen Rollen in der realen und in der virtuellen Welt!

Wissenschaft 2.0?

Unter dem Titel „Forschen und Lehren in der Öffentlichkeit“ hat Christian Spannagel vor knapp zwei Wochen in Hamburg einen Vortrag in der Ringvorlesung „Medien und Bildung“ gehalten. Dabei hat er ein aus meiner Sicht sehr spannendes Thema aufgegriffen, das an anderer Stelle (nämlich hier) auch als „Öffentliche Wissenschaft“ bezeichnet wird. Ich habe mir Christians Vortrag angehört, dann auch dank Googles verwerflicher (?) Digitalisierungswut in Peter Faustichs Herausgeberband „Öffentliche Wissenschaft“ herumgeblättert und mir ein paar Gedanken dazu gemacht. Ich komme momentan auf mindestens fünf verschiedener Lesarten bzw. Intentionen von „öffentlicher Wissenschaft“:

  • Erstens kann der klassische Wissenstransfer als Ziel im Fokus stehen, also der Versuch, wissenschaftliche Erkenntnisse für die Praxis nutzbar zu machen, wofür es natürlich zahlreiche Wege gibt: von der wissenschaftlichen Weiterbildung bis zur Wissenssendung.
  • Zweitens kann man primär den öffentlichen Zugang im Sinne von Open Access im Blick habe, wenn man für eine öffentliche Wissenschaft plädiert – mit allen Streitpunkten, die wir dazu aktuell haben.
  • Drittens kann man (wenn auch verknüpft mit dem ersten Punkt) vor allem die persönliche Bildung durch Wissenschaft anstreben – und das eben nicht nur bezogen auf Studierende, sondern auch bezogen auf alle anderen interessierten Bürger, die über die Beschäftigung mit Wissenschaft ihren Horizont erweitern.
  • Viertens – und jetzt kommen wir zu dem, was Christian allem voran vorschwebt – kann man eher eine „partizipative Wissenschaft“ , also vielleicht eine Wissenschaft 2.0, als Ziel einer öffentlichen Wissenschaft definieren: Interessanter Weise wird hier von Christian der „mode 2“ ins Feld geführt, was Erinnerungen in mir wach ruft, nämlich z.B. die Rede von Franz Weinert zu Heinz Mandls 60. Geburtstag. In dieser Rede (die es leider nirgends schriftlich gibt) drückte Weinert sowohl seine Skepsis gegenüber dieser partizipativen Form der „Wissensproduktion“ aus als auch seine Hochachtung vor Mandl, der es immer verstanden habe, solche neuen Trends mit der klassischen Grundlagenforschung zu verknüpfen.
  • Fünftens gibt es immer mehr Leute, die meinen, „öffentliche Wissenschaft“ heiße vor allem öffentlichkeitswirksames Wissenschaftsmarketing. Nun sind die Grenzen zwischen informativen und motivierend gemachten Darstellungen von Wissenschaft und Forschung auf der einen Seite und anbiedernder Exzellenz- und Qualitätsrhetorik im Hochglanzformat auf der anderen Seite sicher fließend und von mir aus kann eine „MS Wissenschaft“ auch mal eine Zeitlang durch die Flüsse schippern. Aufpassen aber muss man da schon, dass man wissenschaftliches Denken und Handeln nicht nur als Unterhaltensangebot und Anreiz für mögliche Sponsoren nutzt, sondern als ernst zu nehmende Chance zur technischen, wirtschaftlichen UND kulturellen und humanen Weiterentwicklung von Gesellschaften … und als Wert an sich.

Nächsten Dienstag (am 9. Juni) bin ich übrigens auch in Hamburg – mein Thema dreht sich aber um eine andere Frage, nämlich um die Herausforderung des forschenden Lernens.

Begründet widersprechen

In unseren Studiengang „Medien und Kommunikation“ kommen vor allem Studierende, die Kommunikationswissenschaft studieren wollen. Dass der Studiengang gleichberechtigt mit „Mediendidaktik und -pädagogik“ auch einen bildungswissenschaftlichen Anteil hat, wird eher als lästig empfunden – wie die letzte (interne) Erhebung zeigt, in der fast 70% der Erstsemester kein Interesse an unseren Inhalten hat. Das macht die Lehre in diesem Fach alles andere als einfach, wie man sich denken kann. Das ist EIN Problem. Ein anderes Problem, das ich beobachte, ist, dass alles, was nicht unmittelbar „berufsrelevant“ erscheint, ebenfalls eher wenig Interesse auf sich zieht. Zusammen mit meinen Mitarbeitern bemühen wir uns seit Jahren, genau diese „Berufsrelevanz“ zu erhöhen, auch wenn das in unserem Fach schwierig ist, denn wir haben natürlich keine Ahnung, wo unsere Studierende am Arbeitsmarkt landen. Die Vielfalt der möglichen Felder ist groß, ein Versprechen auf „Berufsfähigkeit“ daher eine glatte Lüge.

Dieses Problem ist nicht spezifisch für unseren Studiengang – es ist grundsätzlich – so grundsätzlich wie die Frage, welchen Zweck die Universität überhaupt hat: Bildung oder Ausbildung? Ausbildung! Das hören wir alle und ich habe – das muss ich eingestehen – am Anfang meiner beruflichen Laufbahn nicht so sehr viel darüber nachgedacht. Die Gedanken aber kommen jetzt – häufiger und intensiver. Manchmal lähmen sie mich, weil ich mir nicht mehr sicher bin, wofür ich eigentlich noch die Verantwortung übernehmen kann: Soll ich die Studierende weiter anlügen und ihnen sagen, wir machen sie berufsfähig? Oder soll ich gegensteuern und darauf pochen, das es darum gar nicht gehe, sondern dass es das Ziel sein müsse, kritisch denken, methodisch handeln und verantwortungsvoll urteilen zu lernen? Letzteres führt dann mit Sicherheit dazu, dass der bildungswissenschaftliche Kernfachbereich noch unbeliebter wird.

Es gibt eine ganze Menge schlauer Leute, die sich in den letzten Jahren viele Gedanken genau dazu gemacht haben. Ich möchte nur einen an der Stelle herausgreifen und ein paar Zitate hervorheben. Unter dem Titel „Ein Studium ist keine Ausbildung“ hat Michael Walter bereits 2005 (online hier abrufbar) ein paar interessante Thesen und Argumente gebracht. Ich zitiere:

  • „Die Konzeption Humboldts, aber auch der mittelalterlichen Universitäten, kannte keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Studenten und Professoren, sondern nur einen Unterschied in der Erkenntniskompetenz. Sie beruhte ihrerseits ebenso auf akkumuliertem, wenn auch unsicherem Wissen wie auf Erfahrung. Aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Wissens, das sie weitergeben, verkürzen Professoren jenen Zeitraum, um diese Erfahrungen bzw. das temporär geltende Wissen selbst zu sammeln“ (Walter, 2005, S. 8).
  • Daraus folgert er auf der nächsten Seite: „Gute Studierende sind jene Studierende, die eines Tages in der Lage sind, ihren Professoren und Professorinnen begründet zu widersprechen und eigene Systeme und Modelle vorzuschlagen. Gute Professoren und Professorinnen sind jene, die ihre Studierenden in die Lage versetzen wollen zu widersprechen“ (Walter, 2005, S. 9). Das trifft es eigentlich ziemlich genau, was ich mir implizit immer so vorstelle, wie ich zumindest in dafür geeigneten Situationen (mit denen, die hierfür eine Bereitschaft signalisieren) versuche, dabei aber vor allem bei großen Gruppen natürlich massiv an Grenzen und auch auf Unverständnis stoße. Wichtig erscheint mir denn aber auch Walters Aufforderung an die Studierenden selbst:
  • „Studierende sollten … von der Universität … keine Berufsausbildung erwarten. Die Kompetenzen, die ein Studium vermittelt (oder vermitteln sollte), sind grundlegender und darum auch nachhaltiger Natur: das Erkennen und Durchdenken von Problemen, die anschliessende Suche nach Lösungen und, damit verknüpft, die Suche nach jenem Wissen, das für die Lösung von Bedeutung ist“ (Walter, 2005, S. 9).

Es gibt eine Reihe weiterer Autoren, die genau darin einen durchaus beachtlichen gesellschaftlichen, mithin auch ökonomischen Nutzen sehen. Oder von der anderen Seite her wie folgt von Peter Winterhoff-Spurk in der Ausgabe von Forschung und Lehre vom Februar dieses Jahres (ebenfalls noch online zugänglich hier) formuliert: „Was jetzt im Bildungsbereich – und besonders an den Universitäten – geschieht, ist die Begrenzung des Menschen auf Fertigkeiten und Begabungen, die seiner beruflichen Qualifikation und darüber hinaus den Interessen der Wirtschaft und des Staates dienen. Den Preis dafür werden die nächsten Studierendengenerationen – und später wir alle – zahlen müssen.“

Ich könnte noch einige andere Diagnosen ähnlicher Art hinzufügen, denen ich laut zustimmen kann. Nur Lösungen, die finde ich nicht. Wir können, wir wollen schließlich nicht zurück in vorherige Jahrhunderte. Universitäten sind einem Wandel unterzogen, ja es ist ja auch eine der Leitideen von Humboldt, dass sich die Universität selbst erneuern muss. Allerdings soll sie das „selbst“ und nicht unter dem Zwang von Ökonomie und Politik. Die Lösung kann also wohl nur bei uns selbst, bei denjenigen liegen, die Teil der Universität sind – bei den Professoren/innen und Studierenden. Aber das „Wie“, das ist freilich auch in meinem Kopf ein einziges großes Fragezeichen …

Woher kommt die Netz-Phobie?

Nicht wenige Journalisten der sogenannten Qualitätspresse scheinen sich sehr bedroht zu fühlen vom gemeinen Web-User, von den Bloggern und sonstigen „Ideologen des Internets“, die sich – so das Feindbild – in einem gigantischen rechtsfreien Raum tummeln und kriminelle Machenschaften in anarchistischer Grundstimmung billigend im Kauf nehmen. Mir ist die letzte ZEIT-Ausgabe fast aus der Hand gefallen, als ich den Artikel „Wider die Ideologen des Internets!“ von Heinrich Welfing gelesen hatte: Gehöre ich als intensiver Nutzer des Internets zu einer wachsenden Gruppe von Personen, die nach dem Motto lebt „Im Namen der Freiheit wird der Austritt aus dem Recht propagiert“? Nur der nebenstehende kürzere Beitrag über die „Geistesaristokratie“ von Gero von Randow, der sich zu einer differenzierteren Argumentation aufgerafft hat, hat dazu geführt, dass die ersten Seiten der ZEIT nicht sofort im Mülleimer der Bahn gelandet sind. Die hier deutlich werdende „unerträgliche Seichtigkeit der deutschen Internet-Debatte“ hat Marcel Weiss in einem längeren Kommentar zu diesem absolut verunglückten Artikel sehr gut auf dem Punkt gebracht. Ich empfehle die Lektüre dieses Beitrags sehr, dem erst mal nicht viel hinzuzufügen ist.

Anders als Weiss interessiert mich allerdings schon, wie es dazu kommt, dass man bei der Lektüre von Zeitungen wie der ZEIT bei diesen Themen zunehmend das Gefühl hat, dass das Internet zu einem Feind und Gegner (jetzt: Gegner des Rechts) hochstilisiert wird: Wovor genau hat man Angst? Was steckt hinter der Polemik, die inzwischen beleidigende Züge annimmt? Wie kommt es, dass sich hier ansonsten gut recherchierende Journalisten mit Politikern verbünden, denen nicht mehr als Stammtisch-Vorschläge zur Lösung gesellschaftlicher (nicht technischer!) Probleme einfallen? Überhaupt kann ich nicht verstehen, warum man hier in der Politik nicht offensiver ist und ein paar alte an Netz-Phobie leidenden Herren (und Damen) mit Vertretern aus internetaffinen und -erfahrenen Bereichen der Ökonomie, Kultur und Wissenschaft ersetzt, die echte Lösungen für neue Gefahren und Risiken erarbeiten, die eine wohl noch lange nicht abgeschlossene digitale Entwicklung für unsere Gesellschaft ohne Zweifel mit sich bringt. Pseudo-Lösungen wie Internet-Sperren und Kriegserklärungen gegen aktive Netz-User sind wirklich fehl am Platz. Und die mediale Unterstützung solcher Tendenzen ist schon ziemlich enttäuschend.

Erste Versuche einer pfadabhängigen Didaktik

An anderer Stelle (nämlich hier) habe ich bereits auf die (hier) online zugängliche Schrift von Schulmeister et al. zu „Didaktik und IT-Service-Management für Hochschulen“ verwiesen. Mich interessiert natürlich vor allem der Didaktik-Teil, zu dem ich mir nun etwas mehr Gedanken gemacht habe (wofür sich lange Zugfahrten immer besonders gut eignen – das sind ja fast schon Rückzugsorte geworden).  Das Ergebnis meiner Überlegungen (auf viereinhalb Seiten) ist vorläufiger Art, sodass ich mich über Meinungen oder weiterführende Hinweise  dazu freue. Wichtig ist, dass ich dabei eine etwas andere Perspektive einnehme (als die Autoren/innen der oben genannten Schrift) und weniger das Beschreiben des Gegebenen im Blick habe (wie kann man bestehende Szenarien ordnen?), sondern mehr das Entwickeln von Szenarien (wie komme ich auf mögliche Szenarien?). Dabei komme ich auf eine Art „pfadabhängige Didaktik“.

Arbeitspapier Pfadabhaengige Didaktik

Geld oder Aufmerksamkeit?

Vielen Dank an Joachim, der in seinem Blog (hier) auf einen Beitrag von Hubertus Kohle zum Thema Open Access und der vor einigen Wochen in vielen Zeitungen dargestellten Streitfrage hinweist, ob das Einscannen von Büchern etwa durch Google einem Kulturkrieg gleichkommt. Der Text trifft die Problematik aus meiner Sicht auf den Punkt und bezieht klar Stellung zu den verschiedensten Angriffen auf einen offenen Zugang speziell zu wissenschaftlichen Inhalten. Ich hatte mich schon Anfang April über einige Beiträge etwa in der ZEIT geärgert (z.B. von Susanne Gaschke, die aber überhaupt ganz offensichtlich einige Probleme mit dem Netz hat), und als dann das in diesem Artikel ebenfalls erwähnte Schreiben von der VG-Wort mit der Aufforderung in der Post lag, ich solle mich mit einer Unterschrift dagegen wehren, dass man mir als Autorin meine Rechte nimmt, habe ich es weggeworfen – es hat mich NICHT überzeugt (hier die VG-Wort-Seite zu diesem Thema).

Nun drückt Kohle in seinem Beitrag aus, was mir nur diffus als Begründung für die „Nicht-Unterschrift“ im Kopf schwirrte. Kohle stellt völlig zu Recht klar, dass es bei wissenschaftlichen Büchern in der Regel um lächerliche Auflagen geht; hier verdienen die Verlage ohnehin anders das Geld als mit dem Verkauf der Bücher selbst (nämlich durch Zuschüsse und die Kosten, die viele Autoren selbst tragen). Er beschreibt ebenfalls, das klassische Dienstleistungen des Verlags oft gar nicht erbracht werden: nämlich Lektorat und Beratung. Da ist es kein Wunder, dass allein für Vertrieb und Marketing der Zulauf zu Book-on-demand-Verlagen wächst – wenn man eh alles selbst machen muss. Hier könnten Verlag umdenken und ihr Spektrum an Dienstleistungen ändern. Wissenschaftler verdienen selten an ihren Schriften und wenn dann sind das Summen, die mal für einen Ausflug oder ein paar Abendessen reichen. Sollte das wegfallen, wird das keinen umbringen. Die Entlohnung besteht halt dann in potenziell höherer Aufmerksamkeit, die ein offener Zugang mit sich bringt. Kohle berichtet auch, dass erste Erfahrungen die Hoffnung bestätigen, dass ein offener Zugriff auf ein Buch, das es auch gedruckt gibt, nicht dessen Verkauf schmälert – im Gegenteil: Es wird durch den offenen Zugang viel bekannter, sodass mehr Leute Lust haben, das Buch zu kaufen (wenn es gut ist). Ich nutze google-books sehr viel, denn es ist einfach hervorragend, wenn ich vorher feststellen kann, ob es sich lohnt, ein Buch etwa bei der BIB zu holen oder über Fernleihe zu bestellen oder eben zu kaufen. Ich kann mir vorher ein Bild machen, um dann das Buch in der Hand zu halten, das ich wirklich brauche. Gut, wer Romane schreibt und davon leben will, der befindet sich in einer andere Situation. Aber mal ehrlich: Wer liest denn einen Krimi am Rechner – am Abend – im Bett? Ich nicht. Schließlich ist der wissenschaftliche Mehrwert infolge von Open Access, den Kohle erwähnt, wichtig: Wissenschaftliche Erkenntnisse können und sollen sichtbar und kritisierbar sein und das sind sie im Netz eben viel besser und umfassender als in Bücherregalen … die bei mir trotzdem voll sind.

Mobilität als Selbstzweck?

Ich frage mich immer öfter, was ich eigentlich von der viel beschworenen Mobilität halten soll. Aktueller Anlass sind einige Pressemitteilungen über die kürzlich zu Ende gegangene Bologna-Folgekonferenz in Leuven (Belgien) – mit einem entsprechenden Kommunikee. In der Pressemitteilung des BMBF heißt es: „Die Erhöhung der Mobilität von Studierenden und akademischem Personal bleibt eines der Kernziele des Bologna-Prozesses.“ Warum ist das ein Kernziel? Wenn man sich von Mobilität erwartet, dass Studierende ihren persönlichen Horizont erweitern, Sprachen lernen, Verständnis für andere Kulturen entwickeln, dann kann ich das nachvollziehen. Allerdings kostet das Zeit, die gerade im Studium infolge des allgemeinen Gehetzes keiner mehr hat. Zudem setzt das ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit voraus.

Ich bezweifle, dass Mobilität an sich bzw. quasi automatisch dazu führt, dass sich Studierende persönlich und fachlich weiterentwickeln. Problematisch finde ich den Umkehrschluss: Wer NICHT mobil im Sinne von Auslandsaktivitäten ist, der hat auch eine persönliche Stagnation zu beklagen. Solche Umkehrschlüsse begegnen mir häufig und erzeugen einen gewaltigen und aus meiner Sicht ungerechtfertigten Druck. Es gibt viele Gründe, NICHT ins Ausland zu gehen, stattdessen im eigenen Land ehrenamtlich tätig zu sein, sich sozial zu engagieren etc. und dabei vergleichbare Ziele einer geistigen Mobilität und Beweglichkeit, Horizonterweiterung und persönliche Entwicklung zu erfahren. Menschen sind verschieden, so auch ihre Wege der persönlichen Bildung in diesem erweiterten Sinne. Immer ist im Zug europäischer Bewegungen von Vielfalt die Rede, während im gleichen Atemzug eine seltsam „Einfalt“ propagiert wird. So gesehen ist der Aspekt der Mobilität bei Bologna möglicherweise ein typisches Beispiel für einen beständig wiederkehrenden Mechanismus: Es gibt eine für Fragen der Bildung an sich gute Idee, die potenzielle Verbesserungen in der Bildungslandschaft verspricht. Um diese Idee auch „durchzusetzen“, wird sie formalisiert (indem z.B. „quantifizierbare Ziele“ definiert werden – was erneut ausgebaut werden soll). Im Zuge dieser Formalisierung bzw. Quantifizierung beginnen sich Indikatoren oder Teile eines Ganzen zu verselbständigen und letztlich vor allem im Zuge von Kontrollverfahren skurrile Züge anzunehmen. Nichts gegen Formalisierung und Quantifizierung – aber doch immer im Bewusstsein, dass es Indikatoren für etwas sind, was sich NICHT in der Gänze formalisieren lässt, was man ergänzen sollte durch andere Formen der Überprüfung.

Erwähnenswert ist noch, dass auch die Situation des wissenschaftliches Nachwuchses verbessert werden soll. Leider ist nicht erwähnt, dass die beste Förderung darin bestehen würde, auch Stellen im Anschluss an die wissenschaftliche Qualifizierung etwa in Form neuer Professorenstellen zu schaffen. Das wäre eigentlich die wichtigste Maßnahm, denn: Was nutzt es dem wissenschaftlichen Nachwuchs, während der Qualifizierung bessere Bedingungen zu haben, um am Ende doch auf der Straße zu stehen?

Jeans oder Anzug?

Wer ist schuld an der Bologna-Misere? Oder ist alles nur ein mieses Gerücht? Wer verbreitet es mit welcher Absicht? Die Meinungen sind geteilt, wie eine ganze Reihe von Beiträgen in der ZEIT demonstrieren – und an sich ist das ja nun wirklich nicht verwunderlich: Verschiedene Antworten kommen zustande durch verschiedene Perspektiven und dadurch, dass Lehren und Studieren in hohem Maße von einzelnen Personen abhängig ist – und die waren schon immer verschieden.

„Heute haben die Professoren die Jeans an und ihre Hiwis den Anzug“ – so die Beobachtung eines Hausmeisters an der Uni Tübingen – eine Beobachtung mit Symbolwert? Ja, das kann gut sein, wenn der „Anzug“ für Karrieredenken und die Jeans für zweckfreies Lesen, Denken und Schreiben stehen sollen. Aber so einfach ist das natürlich nicht! Sich konform zu verhalten, muss nicht Ausdruck von Denkfaulheit sein, und natürlich muss man sich hüten, sich überheblich über die Zukunftsängste junger Menschen zu erheben, keinen Job zu bekommen. Und daran ist der Bachelor schuld? Auch das wäre zu einfcah. Heinz-Elmar Tenorth findet seine Bachelor-Studierenden „wissbegierig, bildungsinteressiert und fleißig“. Eine in einem anderen Beitrag zitierte Studentin dagegen ärgert sich über Kommilitonen, die Leistungspunkte wie Rabattmarken im Supermarkt sammeln. Wer hat Recht? Die Frage ist aus meiner Sicht falsch gestellt: Jeder berichtet da aus seiner Warte und ich kenne sowohl die bildungsinteressierten Studierenden als auch die Punktejäger – je nachdem, ob sie sich für das interessieren, was ich anbiete, oder eben nicht. Neben dem Studierverhalten gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Aspekte, die mal als kritisch, mal als unproblematisch in den neuen Studiengängen dargestellt werden: Auslandssemester und Betreuungsfragen kommen z.B. am häufigsten vor. Für jede Pro- und Contra-Sicht gibt es Beispiele und Argumente, die überall zustimmendes Nicken auslösen – auch wenn sie sich widersprechen.

Ein Studium ist allem voran von den beteiligten Personen abhängig: von den Studierenden und von den Lernenden. Die unterscheiden sich – das war schon immer so und das wird auch so bleiben. 100 Prozent Zufriedenheit auf beiden Seiten – das gibt es nicht. Wenn die Anrechnung von Leistungspunkten aus dem Ausland nicht klappt – sorry, aber da ist es eine Ausrede, wenn man die Politik dafür verantwortlich macht. Das macht der Prüfungsausschuss und der besteht aus Professoren. Das haben wir also als Hochschullehrer selbst in der Hand. Wenn man keine kreativen (und bedarfsorientierten) ad hoc-Lösungen in der Lehre mehr umsetzen kann, weil das nicht im akkreditierten Studiengang steht – ja, das ist schon schlechter: Da kann man als Hochschullehrer nicht so einfach den Weg gehen, den man inhaltlich an sich vertreten kann. Hier hat man uns bereits Handschellen angelegt. Setzen wir uns darüber hinweg und gefährden eine Akkreditierung, dann hat man Ärger am Hals – von den Kollegen und vielleicht auch von den Studierenden. Wenn die versprochene Betreuung im Bachelor nicht besser wird, dann reichen wir nochmal tiefer an tatsächlich bildungspolitische Grundsatzprobleme heran: „Schauen Sie sich den Stapel in meinem Büro an. Ich habe eine Siebentagewoche. Neun Stunden Lehrverpflichtung sind einfach nicht zu leisten, wenn man die neuen Lehr- und Lernformen ernst nimmt. Sie müssen die Mentoren und Tutoren für die Lehre betreuen, Reader mit der wichtigsten Literatur erstellen, auf studentische Kritik an den Lehrveranstaltungen eingehen. Und dann sollte man als Professor auch noch exzellent forschen, denn nach der Forschungsleistung bemessen sich der Erfolg und die finanzielle Zuweisung. Das ist irre! Man kann nicht verlangen, dass Studenten hierzulande so gut wie in Harvard betreut werden, aber kein Geld dafür investieren.“ Ternoth trifft einen wichtigen Punkt mit dieser Aussage – das kann ich nur unterstreichen!

Wir haben mit Bologna eine überfällige Reform der Hochschulen angeschoben, aber irgendwie hat man da zwei Esel vor einen langen und schweren Güterzug gespannt … und ihnen moderne Flyer umgehängt. Bei mir verursacht die ganze Exzellenz- und Wettbewerbsrhetorik im Zusammenhang mit Bologna inzwischen gewltigen Ärger, obschon ich rein gar nichts gegen Modularisierung, gegen Leistungspunkte und studienbegleitende Prüfungen habe. Und wieso sollte man als Hochschullehrer etwas dagegen haben, Studierende „berufsfähig“ zu machen – ja was sonst? Aber wieso bitteschön, sollten Wissenschaft und Forschung, auch ein forschendes Lernen, das Eindenken in eine Wissenschaft NICHT dabei helfen, einen Beruf verantwortungsvoll auszuüben? Wer um Gottes Willen hat denn in die Welt gesetzt, dass man sich Berufsfähigkeit nur in Trainings für Präsentieren und interkulturelle Kommunikation holen kann? Warum sollte man Forschungsmethoden erst im Master lernen – was ist denn das für ein Blödsinn? Wer den verzapft, der kann nie verstanden haben, was Wissenschaft, was wissenschaftliches Denken und Handeln gerade auch für praktische Problemlösungen leisten kann. Natürlich muss man dann die Brücke zur Praxis in der Lehre auch schlagen, indem man wissenschaftliche Angebote ergänzt durch Praxiskontakte und Projektseminare mit der Wirtschaft, durch Praktika und Kooperationen außerhalb der Uni.

Nicht die Grundidee von Bologna nimmt uns die Luft zum Atmen, sondern die bürokratische Umsetzung, der Unsinn mit den Akkreditierungsagenturen und die wiederholten Versuche, Studierende und Hochschullehrer gegeneinander auszuspielen – was auch die Medien gerne tun, die ja von den Schlagzeilen-tauglichen dummen Studierenden ebenso leben wie von den faulen Professoren. Ich hätte gerne Professoren in Jeans UND Anzügen; mir ist es völlig egal, ob Studierenden grüne Haare haben (haben sie aber nie – warum eigentlich nicht?) oder im Business-Kostüm herumlaufen. Das muss doch jeder selber wissen. Ich habe eher Angst vor Uniformität und davor, dass wir allesamt verlernen, selbst zu denken, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln und einen persönlichen Weg zu finden, dass wir uns nicht mehr trauen, blödsinnige Regeln schlichtweg NICHT zu befolgen.

Wie gut ist ein Forscher in den Geistes- und Sozialwissenschaften?

Wie gut ist ein Forscher? So gut wie seine Publikationsliste. Aber natürlich nicht jede Liste! Das Gericht in einem Fünf-Sterne-Lokal erfordert ja auch erlesene Zutaten (aber wer weiß eigentlich schon, ob sich da nicht auch Discounter-Ware einschleicht?) und die kommen eben nicht irgendwo her. So ist das mit den Publikationen auch. Allerdings besteht wenig Konsens darin, was die „erlesenen Quellen“ sind und was man meiden muss – jedenfalls in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Unmut darüber, dass sich schon seit längerem in den Geistes- und Sozialwissenschaften Beurteilungspraktiken breit gemacht haben, die aus den Naturwissenschaften kommen, war und ist groß. Umso erfreulicher sind Vorstöße, hier differenzierter zu werden und die Besonderheiten der Disziplinen sowohl in der Forschung als auch in der Art der Veröffentlichung Rechnung zu tragen. Hierzu gibt es aktuell bei der DFG einen interessanten Hinweis (hier):

Die DFG spricht sich gegen den European Reference Index for the Humanities (ERIH) aus – einen Ansatz zur Bewertung von Zeitschriften als Publikationsorten für geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse. Kritisiert wird zum einen, dass auch dieser Ansatz erneut allein Zeitschriften im Blick hat (und z.B. nicht Monografien und Sammelbände), und zum anderen, dass ad hoc zusammengesetzte Expertenpanels die Klassifizierung dieser Zeitschriften vorgenommen hätten. Das Ergebnis sei unterkomplexen und lade zu Missbrauch ein. Zusammen mit drei anderen Förderorganisationen aus Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden hat die DFG daher bereits Ende 2008 ein „Project Board unter Leitung von Professor Ben Martin, Universität Sussex“ initiiert – woher da jetzt die Experten kommen und wieso die nicht ad hoc zusammengesetzt sind, steht leider nirgendwo. Positiv aber ist folgendes Versprechen für die Arbeit dieser Gruppe (ich zitiere):

„Dabei sollen sowohl die Diversität europäischer Wissenschaftssprachen als auch die spezifischen Kommunikations- und Publikationsformen der einzelnen Disziplinen als besondere Herausforderungen mit bedacht werden. Beispielhaft sind hier die in vielen Fächern zentralen Publikationsformen der Monografie und des Sammelbandes zu nennen …“.

Schade, dass z.B. Lehrbücher und andere Lehrmaterialien wiederum NICHT berücksichtigt werden, obschon dies für den Transfer von Wissen und Wissenschaft und für die viel beschworene Einheit von Forschung und Lehre ja wohl auch SEHR wichtig wäre. Ein gutes Lehrbuch schreiben zu können, wäre das nicht auch eine wichtige Qualität eines Forschers? Wäre das nicht eine viel sinnvollere Initiative im Zuge einer höheren Wertschätzung der Lehre als ständig diese „Exzellenz-Wettbewerbe“? Ich frag ja nur …

Wirkungen und Nebenwirkungen

Erst mal vielen Dank an Christian, die hier einen langen Kommentar zur Entwurfsmuster-Diskussion geschrieben hat, die unter anderem auch (hier) bei Peter weitergeführt wird.

Christian räumt ein (Zitat): „Zunächst muss ich zustimmen, dass auf den ersten Blick der Muster-Begriff nicht viel Neues bringt. Wir alle sehen und erkennen Muster rund um die Uhr und überhaupt der gesamte Wissenschaftsbetrieb ist ja darauf ausgerichtet, Muster (z.B. als Gesetze oder Prinzipien) zu entdecken. … Muster im Allgemeinen sind meiner Meinung nach die natürliche Ordnungsform der Dinge in der Welt – auf Mikro wie auf Makroebene.“

Was ihm (und nicht nur ihm, nehme ich an), aber fehlt, sind expliziten Musterbeschreibungen, um ein besseres Verständnis von guter Lehre zu erlangen, um von Erfahrungen anderer zu lernen. Bei diesem Satz habe ich mir gedacht, dass meine Assoziation zu Methoden des Wissensmanagements ja gar nicht falsch war, auch wenn wir hier eine empirisch (leider) eher schlecht untersuchte und bisweilen auch recht unreflektierte Praxis vorfinden. Was Christian fordert ist eine „leicht zugängliche Aufbereitung des handlungsrelevanten Wissens“ – das ist aus meiner Sicht eine absolut berechtigte Forderung an die Bildungswissenschaft. Nur, genau hier liegt ein gravierendes Problem auf vielen Ebenen, was erst mal nicht viel mit dem Muster-Ansatz zu tun hat:

  • Da haben wir zunächst einmal das Wissenschaftsverständnis, das keineswegs bei allen Teildisziplinen und Fächern, die sich mit Lernen, Bildung und Erziehung beschäftigen, gleich ist und einen Nutzen für die Praxis durchaus nicht immer beinhaltet.
  • Dazu gesellt sich dann (davon abhängig) das methodologische Verständnis und verschiedene Auffassungen, welche Aktivitäten überhaupt als wissenschaftliche Aktivitäten gelten dürfen und welche Methoden zu bevorzugen sind.
  • Und schließlich würde ich noch die Publikationspraxis anführen: Eine Aneinanderreihung von englischen Artikel mit Peer-Review, die soldatenmäßig nach dem gleichen „Muster“ 😉 gestrickt sind, helfen der Karriere, aber nicht demjenigen, die an sich gerne mit bildungswissenschaftlichen Erkenntnissen die Praxis verbessern will. Wer sich z.B. berufen fühlt, genau das zu tun, was Christian vorschlägt, nämlich zu „analysieren, welche Redundanzen sich in den beschriebenen Gestaltungs- und Handlungsformen befinden“, die man auch in der wissenschaftlichen Literatur findet, und die sich dabei (hoffentlich) herausschälenden Heuristiken explizit beschreibt, der sollte seine wissenschaftliche Karriere möglichst schon beendet haben und keine Fördergelder mehr benötigen – um es mal ein bisschen überspitzt zu formulieren.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich halte das nicht für einen Wohltätigkeitsakt, sondern ich halte das auch für essenziell auf dem Weg zu mehr Erkenntnis im Bereich Lernen und Lehren! Aber diese Position ist kein Mainstream. Würden wir es uns z.B. zum Prinzip machen – ich sage es jetzt mal neudeutsch -, ganze „Workflows“ (Christian bringt als Beispiel die Konzeption von Multiple Choice-Fragen) zu gestalten, zu beschreiben, in klar beschriebenen Kontexten erproben, umzugestalten und wieder (in weiteren Kontexten) zu erproben etc., dann könnte man das (unter bestimmten Voraussetzungen) auch zu Forschungszwecken sehr gut nutzen.

Christian bringt eine gute Analogie, um zu erklären, was er sich von einem Entwurfsmuster erwartet. Ich zitiere: „Entwurfsmuster haben eine bestimmte Abstrahierungsform, die einerseits keine Beliebigkeit der Form zulässt (wie etwa bei allgemeinen Prinzipien), sondern konkret sagt, welche Formklasse gemeint ist: Wenn ich von „Fahrzeug“ spreche, dann ist keine Generativität mehr gegeben, denn damit könnte sowohl ein Fahrrad als auch ein Flugzeug gemeint sein. Wenn ich also sage „Lass uns ein Fahrzeug bauen“ kann man nicht sagen, was dabei später herauskommt (ein Fahrrad oder Flugzeug?). Wenn ich dagegen von der Gestaltung eines „Autos“ spreche, ist klar, dass am Ende kein Boot oder Skateboard herauskommen sollte. Das Muster „Auto“ besitzt also jene Generativität ebenso wie die spezielleren Formen „Cabriolet“ oder „Kombi“. Es gibt Millionen verschiedener Gestaltungsmöglichkeiten und doch wissen wir etwas über die Form. Dagegen ist das Muster „Twingo“ kein Entwurfsmuster mehr, da es eine zu spezifische, nicht mehr genügend variable Form, beschreibt: Man hat keinen Entwurfsspielraum mehr. Der „Twingo“ ist nur noch eine Schablone. Übertragen auf die Pädagogik könnte die Forderung nach Generativität bedeuten: „Test“ wäre zu abstrakt, da es keinen Gestaltungsraum beschreibt. „Multiple Choice“ ist dagegen ein Entwurfsmuster, da es einen Gestaltungsraum beschreibt. Die Führerscheinprüfung dagegen lässt keinen Gestaltungsspielraum mehr; die Fragebögen sind nur noch Exemplare einer festgelegten Schablone.“ Diese Analogie bringt das berechtigte Bedürfnis seitens der Bildungspraxis sehr gut auf den Punkt. Die Frage ist also, wie wir dahin kommen. Für mich ist es nur eine nebensächliche Frage, ob wir das Entwurfsmuster oder anders nennen. Hier teilen sich natürlich auch wissenschaftliche Interessen: Dass uns nämlich z.B. emergente Prozesse aus den Naturwissenschaften (wie Peter meint) viel weiterhelfen, glaube ich nicht. Ich meine, es ist eher eine Frage der forschungsmethodischen Herangehensweise: Wir müssten viele, viele Einzelfälle sammeln und nach konsensfähigen Dimensionen beschreiben, die man beachten muss, wenn man guten Unterricht hinbekommen will.

Ich bringe dazu auch mal eine Analogie: Wir kennen alle die langen Beipackzettel bei Medikamenten mit der endlosen Liste von Nebenwirkungen, die zustande kommt, weil in einer klinischen Studie vielleicht 1000 völlig verschiedene Personen das Medikament genommen haben und alle zusammen eben zahlreiche Nebenwirkungen und natürlich auch ganz verschiedene erwünschte Wirkungen bei sich bemerkt haben. Die Wirkung (und Nebenwirkungen) des Medikaments beziehen sich also auf einen Durchschnittspatienten, der real nicht existiert. Wie das Medikament bei einem konkreten Patienten wirkt, kann der Arzt also nicht sagen. Hätte man dagegen die tausend Probanden einzelne mit ihren besonderen Merkmalen (Alter, Größe, Gewicht, Geschlecht, Vorerkrankungen, und was man eben sonst noch für wichtig hält) erfasst und in einer Datenbank gespeichert, könnte der Arzt für den konkreten Patienten nach „ähnlichen Mustern“ suchen (also das von Christian genannte „Pattern Mining“) und bei einer zwar viel kleineren Bezugsgruppe viel genauere Hinweise auf die zu erwartenden Wirkungen und Nebenwirkungen geben. Das wären für mich völlig plausible Muster, die Wirkungen (und Nebenwirkungen) kommen sicher emergent zustande, wir könnten konkrete Ratschläge geben und würden darüber hinaus noch eine ganze Menge über die Wirkungsweise lernen. Stellt euch vor, wir hätten so etwas für Fragen, wie man guten Unterricht macht! Dann wäre ich ein Fan der Entwurfsmuster.