Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Warum man überhaupt noch selbständig denken sollte

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Zehn Thesen zur Zukunft des Schreibens in der Wissenschaft haben Vertreterinnen und Vertreter der Schreibdidaktik angesichts der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) auf rund 20 Seiten (ohne Literaturverzeichnis) verfasst. Das Dokument ist hier online verfügbar. Das Autorenteam bezeichnet es als Ergebnis eines gemeinsamen Denk- und Schreibprozesses.

Das Diskussionspapier bezieht sich auf „sämtliche Prozesse in der Domäne Wissenschaft, in denen Texte verfasst oder in Vorbereitung darauf rezipiert werden“, entsprechend werden nicht nur ChatGPT, „sondern auch KI-basierte Anwendungen zur Recherche, Lektüre, Übersetzung und für andere schreibbezogene Tätigkeiten“ einbezogen (S. 3). Das Autorenteam hat einen weiten Begriff von Schreiben (auch als Instrument des Lernens und der Erkenntnisgenerierung); ich würde aber sagen, dass das auch das schreibdidaktisch etablierte Verständnis ist. Für jede der zehn Thesen werden eine Utopie und eine Dystopie ausformuliert, um die Spannweite aufzuzeigen, „innerhalb derer die Disruption [durch KI] neue gesellschaftliche Praktiken hervorbringen kann“ (S. 5).

Mir hat das Papier sehr gut gefallen: Vieles von dem, was ich in den letzten Monaten mit anderen diskutiert, selbst überlegt und/oder niedergeschrieben habe, findet sich hier in einer hilfreichen Ordnung, abwägend dargestellt und konsistent zu einem Text verarbeitet. Das Verfahren, darüber nachzudenken, wie sich die Situation des Schreibens im Zeitalter von KI im besten Fall (Utopie) und wie im schlechtesten Fall (Dystopie) entwickeln könnte, halte ich für einen brauchbaren Weg: Er zwing dazu, die eigenen Werte zu explizieren, denn was man als erwünscht (oder utopisch) oder unerwünscht (dystopisch) ansieht, hängt schließlich davon ab, welche Werte man im Rahmen der Hochschulbildung vertritt. Ich gehe davon aus, dass verschiedene Disziplinen, Akteursgruppen und Individuen hier keineswegs immer einer Meinung sein werden.

Wollte man mit dem Papier weiterarbeiten, könnte man unter anderem alle zehn utopischen und alle zehn dystopischen Zukunftsbilder bzw. -facetten zusammensetzen und sich die jeweilige neue Welt des wissenschaftlichen Schreibens plastisch vorstellen. Man könnte sie aber auch so zusammenfügen, dass ein Bild erstellt, das man für sehr wahrscheinlich und für weit hergeholt hält – ich gehe jedenfalls davon aus, dass sich dann positiv und negativ bewertete Zukunftsfacetten (ein wenig) mischen. All dies wäre mit Studierenden gemeinsam zu tun, denn es geht ja vorrangig genau um sie: um diejenigen, die das wissenschaftliche Schreiben erst noch erlernen oder ausbauen und festigen sollen (oder auch nicht).

Drei dystopische Aussagen und eine utopische Aussage möchte ich hier noch kurz zitieren – diese beschäftigen mich selbst gerade am meisten:

  • „Eine Standardisierung von Sprache, Textmustern, Stil etc. bedeutet in Konsequenz eine Vereinheitlichung und Nivellierung von Kultur, Fachlichkeit und Fachsprachlichkeit, von Perspektiven auf Welt, Subjektivität und Individualität – letztlich das Auslöschen von Differenz“ (S. 11) – eine Aussage zur These, dass Sprache (ver)einheitlicht und standardisiert wird.
  • „In letzter Konsequenz lesen sich alle Texte vom Duktus her gleich, sodass Texte nicht mehr gelesen werden müssen und nur noch die dargelegten Forschungsergebnisse als reine Informationen zählen, die stichpunktartig oder tabellarisch aufbereitet werden. Empirische, insbesondere quantitative, Forschung gewinnt vor diesem Hintergrund noch weiter an Bedeutung, theoretische oder explorative Praxisstudien hingegen sterben langsam aus“ (S. 12) – eine Aussage zur These, dass Lesende Texte nach anderen Kriterien beurteilen werden.
  • „Wir geben immer mehr Denkprozesse an die KI ab. Wir lernen schnell, dass wir ihr argumentativ nichts entgegenzusetzen haben, ihren Informationen nichts hinzuzufügen. Warum sollten wir dann überhaupt noch selbstständig denken? Das Ergebnis ist, dass die Fähigkeit zum eigenen kritischen Denken, also Urteilskraft, immer weiter verkümmert“ (S. 14) – eine Aussage zur These, dass Denken externalisiert und dynamisiert wird.
  • „Der Erwerb akademischer Schreibkompetenz wird zu einem zentralen akademischen Bildungsziel und in jedem Studiengang konsequent didaktisch verfolgt, wenn auch in veränderter Form. Das Potenzial des Schreibens für das Lernen, für die Wissenschafts- und Fachsozialisation und damit auch für spezifisch akademische Werte und Kompetenzen wie kritisches Denken, Argumentations- und Diskursfähigkeit, Bewusstsein um Relativität von Wissen etc. […] wird damit flächendeckend erkannt und gehoben“ (S. 18) – eine Aussage zur These, dass sich die Ausbildung von Schreibenden verändert.

Es wäre nun die Aufgabe, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie können wir differenztötende Standardisierung, Vereinheitlichung wissenschaftlicher Dokumentation und das Verkümmern kritischen Denkens vermeiden und die Entwicklung einer besseren akademischen Schreibkompetenz (als bisher) befördern? Hat jemand eine Lösung?

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