Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Eine im Begriff angelegte Starrheit

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Rigor versus Relevanz – dieses Gegensatzpaar spielt eine große Rolle, unter anderem wenn man sich mit Forschungsansätzen wie Design-Based Research bzw. Entwicklungsforschung beschäftigt (zum Thema siehe z.B. hier). Unter dem Titel „Rigor, wissenschaftliche und praktische Relevanz“ hat Alexander Dilger vor knapp einem Jahr ein Diskussionspapier veröffentlicht (hier), in dem er das Gegensatzpaar „Rigor – Relevanz“ auflöst und stattdessen für die Unterscheidung von drei Dimensionen plädiert (siehe im Text Abbildung auf Seite 7): Rigor, wissenschaftliche Relevanz und praktische Relevanz.

Seine Argumentation: Wissenschaft sollte nicht auf Rigor im Sinne der Einhaltung von Regeln und Standards und schon gar nicht auf die Einhaltung von wiederum nur speziellen Standards (z.B. beim quantitativen Forschen) eingegrenzt werden. Wichtiger sei vielmehr die wissenschaftliche Relevanz, zu der neben Rigor auch Kreativität oder die Bedeutung des betrachteten Problems gehöre (S. 2). Aber: „Rigor erfreut sich … deshalb so großer Beliebtheit in der Wissenschaft, da er besser feststellbar, überprüfbar und für weitere Forschung anschlussfähiger ist als die anderen Bestandteile der wissenschaftlichen Relevanz und damit auch dieser selbst“ (S. 4). Außerdem würde das aktuelle System der Forschungsförderung und wissenschaftlichen Nachwuchsförderung eine Spezialisierung auf die Einhaltung von Rigor (vor allem speziellem Rigor) befördern. Von daher sei eine Dominanz von Rigor eine reale Gefahr – jedenfalls „bis die im Begriff angelegte Starrheit zu groß wird“ (S. 6). Dilger führt anhand einiger Beispiele auf, dass Rigor und wissenschaftliche Relevanz durchaus voneinander unabhängig sein können, aber im Idealfall natürlich miteinander gekoppelt sind, ohne dass aber die wissenschaftliche Relevanz in Rigor aufgehe.

Als dritte Dimension führt er nun die praktische Relevanz ein. Hier ist interessant, dass seine Argumentation für die Betriebswirtschaftslehre, die er als angewandte Wissenschaft bezeichnet, auch auf die Bildungswissenschaften als ebenfalls angewandte Wissenschaften recht gut passt: „Für Praxis und Wissenschaft ist es besser, wenn innerhalb der Wissenschaft die wissenschaftliche Relevanz nach Möglichkeit wieder in den Vordergrund gerückt wird. Denn wissenschaftliche Relevanz kann nicht nur zu praktischer Relevanz führen, sondern auch umgekehrt kann die praktische Relevanz als eine Komponente verstanden werden, die neben Rigor, Kreativität u. a. zur wissenschaftlichen Relevanz beiträgt. In einer angewandten Wissenschaft ist ein Problem allein schon deshalb wissenschaftlich relevant, weil es sich in der Praxis stellt. Allerdings ist dieser Beitrag zur wissenschaftlichen Relevanz gering, wenn nicht weitere Eigenschaften hinzukommen, z. B. dass das Problem verallgemeinerbar, an vorhandene Theorien anschlussfähig oder für die Entwicklung neuer Theorien fruchtbar ist“ (S. 6). Ich finde, diese Argumentation hat eine hohe Affinität zu den Argumenten, mit denen man in der Regel versucht deutlich zu machen, warum Design Research bzw. Entwicklungsforschung nicht nur ein neuer Aufguss der alten Aktionsforschung ist.

Im letzten Teil des Textes geht Dilger im Zusammenhang mit der praktischen Relevanz auf den Unterschied zwischen praktischem Interesse an neuem Wissen und an der Rechtfertigung schon bestehender Meinungen ein (S. 8 ff.), wobei er mit Praxis vor allem die Wirtschaft und die Politik im Blick hat. Erhebliche Probleme für die Wissenschaft identifiziert Dilger vor allem da, wo die Praxis vorrangig nach wissenschaftlicher Rechtfertigung ihrer schon gefassten Entscheidungen oder formulierten Einschätzungen interessiert ist. Wichtig erscheint mir hier unter anderem sein Hinweis darauf, dass Wissenschaft von ihrem Charakter her öffentlich angelegt ist und öffentlich zugängliches Wissen ein Kollektivgut ist; „die Ergebnisse werden in der Regel veröffentlicht, um von allen anderen Wissenschaftlern begutachtet, gegebenenfalls kritisiert oder um deren weitere Erkenntnisse ergänzt werden zu können“ (S. 11).

Fazit: Ein lesenswertes Diskussionspapier – auch für Bildungswissenschaftler und vor allem für solche, die außerhalb des aktuellen Forschungsmainstreams versuchen, Fuß zu fassen.

Ein Kommentar

  1. In diesem Zusammenhang würde ich gerne auf die letztjährige Tagung der Gesellschaft für Wissenschaftsforschung mit dem Thema ‚Kreativität in der Forschung‘ verweisen.
    (Tagungsband: http://www.wissenschaftsforschung.de/Jahrbuch2012.pdf )
    … und als Anregung folgendes Zitat von Heinrich Parthey über einen ‚Dialog‘ zwischen Rudolf Carnap und Hans Reichenbach:
    ‚Können wir mit Hilfe irgendeines Schlußverfahrens aus dem, was wir wissen, auf etwas „Neues“ schließen, das in
    dem Gewußten nicht schon enthalten ist? Ein solches Schlußverfahren wäre offenbar
    Zauberei. Mir scheint, das müssen wir ablehnen.“ (S.11)

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