Forschende und lehrende Hochschuldidaktiker an Universitäten zeichnen sich dadurch aus, dass in ihrer Person Wissenschaft (die Wissenschaft vom Lehren und Lernen) und Praxis (die Praxis der Hochschullehre) verschmelzen, oder anders formuliert: Hochschuldidaktiker an Universitäten, wenn sie denn Professuren bekleiden (versus in Serviceeinrichtungen sitzen) befinden sich in der Situation, dass sie zugleich Forscher und Praktiker im gleichen Feld sind: Sie erforschen das akademische Lehren und Lernen und sind zugleich praktisch tätige Akteure in der Hochschullehre. Diese besondere Situation gilt für andere Hochschullehrer nicht der gleichen Form – selbst dann nicht, wenn sie sich im Sinne einer Scholarship for University Teaching ebenfalls forschend mit ihrer Lehre auseinandersetzen, denn nur für Hochschuldidaktiker gilt, dass ihr Praxis- und ihr Forschungsfeld zusammenfallen.
Die Ausgangssituation und das Ziel
Es ist davon auszugehen, dass das wissenschaftliche Wissen, das Hochschuldidaktiker von ihrem Gegenstand haben, einen Einfluss darauf ausübt, wie sie die eigene Lehre gestalten, wahrnehmen und bewerten. Umgekehrt ist es vermutlich auch so, dass das praktische Wissen, das Hochschuldidaktiker von ihrem Gegenstand haben, die Art und Weise der eigenen Forschung, also Fragen, Design, Methoden, Interpretationen, beeinflusst. Oder kurz: Die Praxis des lehrenden Hochschuldidaktikers wird auf dessen Forschung ebenso Auswirkungen haben wie die Praxis des forschenden Hochschuldidaktikers auf dessen Lehre. Daraus ergibt sich eine besondere Lehr- und Forschungssituation, die besondere Potenziale und wohl auch Risiken birgt. Zunächst aber interessieren mich die Potenziale – und zwar die für die hochschuldidaktische Forschung.
Ich finde in der wissenschaftlichen Literatur keine Antwort auf die Frage, was aus der skizzierten besonderen Situation des Hochschuldidaktikers folgt. Selber denke ich seit vielen Jahren immer wieder mal darüber nach, ohne dass ich darüber bislang etwas geschrieben oder mündlich berichtet hätte. Vermutlich halten mich die Einwände zurück, die hier gewissermaßen vorprogrammiert sind, denn: Das, was mir da durch den Kopf geht, scheint so gar nicht in den Zeitgeist einer evidenzbasierten Hochschullehre zu passen. Es geht mir um den Versuch, die Erfahrung des Hochschuldidaktikers in der eigenen Lehre systematisch in die Forschung einfließen zu lassen. Oder anders formuliert: Das, was abwertend als „anekdotisch“ bezeichnet und in der Regel entschieden zurückgewiesen wird, würde ich gerne systematisch in die Landschaft der Forschungsmethoden aufnehmen. Ein Anker dafür könnte die im angloamerikanischen Raum viel diskutierte Autoethnografie sein.
Von der Ethnografie zur Autoethnografie
Ethnografie ist ein schillernder Begriff aus dem soziologischen Methodenrepertoire, der in der englisch- und deutschsprachigen Literatur keineswegs einheitlich verwendet wird. Für meine Zwecke hier genügt es, auf das Kernmerkmal des Ansatzes zu verweisen, nämlich auf die teilnehmende Beobachtung im Feld, in dem man erkundet, wie das „wirkliche“ Leben bzw. der Alltag ist (daher auch die Bezeichnung Feldforschung). Der Forschende ist hier Mittel zum Zweck, weshalb man, wie in den meisten Forschungsansätzen auch, bemüht ist, die selektive Wahrnehmung des Forschers wie auch seinen Einfluss auf das Feld zu kontrollieren.
Noch schillernder aber ist der Begriff der Autoethnografie, der in deutschsprachigen Methodenbüchern fast gar nicht vorkommt, im angloamerikanischen Raum aber seit längerem intensiv diskutiert wird. Die einfachste Umschreibung führt Autoethnografie auf eine Kombination von Ethnografie und Autobiografie zurück, was notwendigerweise auf ein narratives Endprodukt verweist. Allerdings scheint es hier so viele Vorstellungen wie Autoren zu geben; die Spannbreite reicht von der emotionalen über die evokative (Betroffenheit und Veränderung bewirkende) bis zur analytischen Autoethnografie. Einig ist man sich aber in der Grundidee, dass Autoethnografie die Erfahrungen des Forschenden im Feld nicht kontrolliert, sondern als Gegenstand der Forschung mit einbezieht. Zur teilnehmenden Beobachtung tritt also eine systematische Selbstbeobachtung. Damit gelangt ein bei uns ebenfalls geläufiger (wenn auch weitgehend verbannter) methodischer Ansatz ins Zentrum des Interesses, nämlich die Introspektion. Introspektion umfasst die gerichtete Wahrnehmung auf das bewusste Erleben sowie den Bericht über die Selbstbeobachtung und kommt damit dem heute eher akzeptierten Begriff der Selbstreflexion ziemlich nahe.
Hochschuldidaktische Autoethnografie
Autoethnografie in den Händen lehrender und forschender Hochschuldidaktiker führt eine weitere Spezifizierung ein: Hochschuldidaktische Autoethnografen wären gewissermaßen doppelreflexiv tätig: Die erste Stufe der Reflexivität ergibt sich aus dem Umstand der Introspektion im Feld, welche die Autoethnografie per definitionem mit sich bringt. Die zweite Stufe der Reflexivität ist die Folge davon, dass das Feld, in das sich der Forschende teilnehmend und selbst beobachtend begibt, auch sein eigenes Praxisfeld ist, in dem er Erfahrungen macht, auch wenn er nicht forschend tätig ist.
Nun könnte man wegen genau dieser doppelten Reflexivität abwinken und alles, was daraus folgt, nicht nur als anekdotisch oder essayistisch, sondern als wirre Selbstbespiegelung abtun. Ich plädiere aber dafür, innezuhalten und sich mehr Gedanken zu machen bzw. zu analysieren, ob nicht doch auch ganz besondere Potenziale für die hochschuldidaktische Forschung in genau dieser doppelten Reflexivität liegen. Forschende sind und bleiben in allen (!) Forschungsansätzen Personen, die ihre Interessen, Erfahrungen, Wahrnehmungsmuster und Beurteilungsmaßstäbe mitbringen. Im Falle des forschenden Hochschuldidaktikers im Feld der Hochschullehre sind diese Interessen, Erfahrungen, Wahrnehmungsmuster und Beurteilungsmaßstäbe allerdings in hohem Maße durch die eigene wissenschaftliche Arbeit zur Hochschuldidaktik geformt, also auch besonders nah am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis. Ich unterstelle einmal, dass sich sowohl das, was der Hochschuldidaktiker für die eigene Lehre konzipiert und umsetzt, als auch das, was der Hochschuldidaktiker in der eigenen Lehre wahrnimmt und bewertet, davon unterscheidet, was Fachwissenschaftler ohne Bezug zur hochschulischen Bildungsforschung als Hochschullehrer tun und erkennen. Und diesen Unterschied zu nutzen, darum geht es mir. Mir scheint das eine Erkenntnisquelle zu sein, deren Nutzung sich doch genau genommen geradezu aufdrängen müsste (dass das nicht der Fall ist, dürfte wiederum wissenssoziologisch interessant sein zu ergründen).
Anwendungsfelder für hochschuldidaktische Autoethnografie
Hochschuldidaktische Autoethnografie könnte zum einen für Forschungsvorhaben fruchtbar gemacht werden, in denen es darum geht, dicht zu beschreiben und besser zu verstehen, was in der Hochschullehre geschieht, wie Vorlesungen, Seminare, Übungen und Projekte „wirklich“ vonstattengehen, wie (versuchte) Veränderungen in der Lehre aufgenommen werden, was verschiedene Lehrformen und -formate im Alltag der Hochschule bewirken usw. Selbstredend wäre es hoch interessant, mehrere oder gar viele Autoethnografien aus der Hochschullehre zu haben bzw. gemeinsam zu sammeln, diese untereinander zu vergleichen, aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren und darüber in einen wissenschaftlichen Dialog zu kommen – gewissermaßen im Sinne einer Double-selfreflexive Scholarship of University Teaching.
Zum anderen könnte hochschuldidaktische Autoethnografie konsequent im Rahmen von Design-Based Research (DBR)-Vorhaben in der Hochschuldidaktik eingesetzt werden, denn: Selbstbeobachtung in Kombination mit teilnehmender Beobachtung spielt im DBR-Ansatz an fast allen Stationen des Forschungsprozesses eine Rolle, ohne dass dies methodisch bisher besonders artikuliert und systematisch bearbeitet worden wäre: (1) Bei der Problemdefinition und -beschreibung können praktische Herausforderungen der Lehre anderer, aber auch die eigene Lehre Pate stehen; ist die eigene Lehre Impuls für ein DBR-Vorhaben, erscheint eine autoethnografische Vorgehensweise durchaus zielführend. (2) Bei der Entwicklung einer didaktischen Intervention ist der Forschende (alleine oder in einem Team) gleichzeitig derjenige, der entwirft und konstruiert; in diesem ohnehin schwer fassbaren Prozess der Entwicklung könnte Autoethnografie ein besonderes Potenzial entfalten, wobei hier nicht die Aktualisierung der Lehre, sondern der Akt der Entwicklung von Lehre Gegenstand der Selbstbeobachtung ist. (3) Bei der Implementierung einer neuen Intervention kann fremde oder die eigene Lehre herangezogen werden. In ersten Zyklen, die noch experimentellen Charakter haben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, die eigene Lehre als Implementationsfeld zu nutzen; mit zunehmender Reife einer Intervention und im Zuge der Suche nach Generalisierungsmöglichkeiten weitet man natürlich die Umsetzungskontexte aus. In dem Moment, in dem man in der eigenen Lehre etwas implementiert, könnte Autoethnografie eine naheliegende Methode sein. (4) Im Falle des Redesign liegt eine vergleichbare Situation zu der vor, in der eine didaktische Intervention entwickelt wird – Autoethnografie könnte hier wiederum entsprechend gewinnbringend zum Einsatz kommen.
Wie weiter?
Wie oben angedeutet, sind dies meine ersten öffentlich artikulierten Überlegungen zum Thema; sie sind vorläufig und unausgereift. Unten habe ich ein paar Literaturquellen angegeben, auf die ich gestoßen bin und die mich beeinflusst haben oder die ich gezielt bei offenen Fragen gesucht habe. Mir ist klar, dass der aktuell verbreiteten Forschungslogik und -haltung in den Bildungswissenschaften kaum etwas ferner liegen könnte als eine Renaissance der Introspektion des Forschenden und narrative Forschungsresultate. Ebenso klar aber ist für mich, dass man die besondere Situation des lehrenden und forschenden Hochschuldidaktikers nicht brachliegen lassen sollte, wenn es denn darum geht, mit hochschulischer Bildungsforschung unser Wissen über die Hochschullehre zu erweitern und zu vertiefen und zu einer besseren Hochschullehre beizutragen. Von daher habe ich mir vorgenommen, an diesem Thema dranzubleiben, die Möglichkeiten einer hochschuldidaktischen Autoethnografie zunächst weiter theoretisch auszuleuchten und dann natürlich auch selbst zu erproben.
Literatur
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