Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Take home …

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Prüfungen unter Pandemie-Bedingungen – das ist eine große Herausforderung. Wenn, wie aktuell etwa in Hamburg der Fall, gar keine physische Präsenz möglich ist, heißt das, dass alle Prüfungen online umzustellen sind. Die geltenden Datenschutzbestimmungen sind weitere, den Handlungsspielraum eingrenzende, Bedingungen. Überall da, wo in der Regel Klausuren in großer Zahl geschrieben werden, stellt sich nun ganz besonders die Frage, wie man das digital bewältigen soll. Eine Option (sicher aber nicht das Alleilmittel, vor allem in Massenfächern nicht) sind sog. Take Home Exams.

Take-Home-Exams (THE) sind – so eine übliche Definition – schriftliche Prüfungen mit begrenzter Bearbeitungszeit (z.B. 3-4 Stunden), die ohne Aufsicht (zuhause) durchgeführt werden und innerhalb eines bestimmten Zeitraums (z.B. in 12 oder 24 Stunden) abzugeben sind. Infolge der fehlenden Aufsicht haben Studierende während der Prüfung Zugriff auf sämtliche verfügbare Hilfsmittel (z.B. Lehrmaterialien, Literatur, Internetquellen) und die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen.

Aus dieser Definition lässt sich bereits folgern, dass sich folgende Prüfungsaufgaben NICHT für THE eignen: Multiple Choice-Aufgaben oder andere geschlossene Aufgabenformen, Aufgaben, die Fakten oder Definitionen abfragen, und Aufgaben, die eindeutig richtig oder falsch beantwortet werden können. Kurz: Alle Fragen/Aufgaben, deren Antworten/Lösungen sich in hohem Maße standardisieren lassen, sind für THE tendenziell ungeeignet.

Geeignet für THE sind Aufgabenformen, die über eine bloße Wiedergabe von Wissen hinausgehen und anspruchsvollere Leistungen einfordern, wie z.B. Wissen anzuwenden oder zu übertragen, Zusammenhänge zu erklären, Inhalte zu vergleichen oder zu beurteilen, eigene Positionen darzulegen etc. Die Möglichkeit der freien Informationsrecherche sollte (z.B. über die zeitliche Begrenzung) berücksichtigt oder als Bestandteil der Prüfungsleistung eingeplant sein. Damit werden im Übrigen einige der Anforderungen für kompetenzorientiertes Prüfen erfüllt.

Es ist schon viele Jahre her, da habe ich mit genau solch einer Prüfungsform an der Universität Augsburg und an der Universität der Bundeswehr München experimentiert: Ich habe das damals „24-Stunden-Hausarbeit“ genannt (und unter dieser Bezeichnung ist es auch in den Herausgeberband „Kompetent Prüfungen gestalten“ (von J. Gerick, A. Sommer & G. Zimmermann) 2018 eingeflossen. Nie hätte ich gedacht, dass die Grundidee der 24-Stunden-Klausur  (jetzt im begrifflichen Take Home-Gewand) so begehrt sein würde …

Aus didaktischer Sicht können meiner Einschätzung nach die folgenden Aufgabenformen für THE empfohlen werden:

Aufgaben, die in Kontexte/Situationen eingebettet sind, sodass (ggf. recherchierbares) Wissen angewandt und damit interpretiert oder angepasst werden muss.

Beispiel 1: authentische Fälle oder Problemstellungen bearbeiten
Beispiel 2: fiktive Fälle oder Problemstellungen bearbeiten
Beispiel 3: Problemsituation aus verschiedenen Perspektiven analysieren

Aufgaben, die neben gegebenenfalls recherchierbarem Wissen wissensbasiertes Urteilsvermögen und Zusammenhangswissen verlangen.

Beispiel 1: Vorgegebene Lösungen einer Aufgabe vergleichen und beurteilen
Beispiel 2: Gegebene Sachverhalte mit Fachwissen erklären und/oder bewerten
Beispiel 3: Theoretische Konzepte oder Forschungsergebnisse diskutieren

Aufgaben, deren Bearbeitung ein tiefes Verständnis und/oder den Einsatz von fachbezogenem Methodenwissen verlangen.

Beispiel 1: Unvollständige Lösungsbeispiele zu Ende führen
Beispiel 2: Anwendungssituationen für vorgegebenes Fachwissen finden
Beispiel 3: eigene Position zu einer These oder Kontroverse formulieren

Die konkrete Eignung dieser (und ähnlicher) Aufgabenformen und deren Ausgestaltung ist freilich disziplin- bzw. fachabhängig. Zudem gilt auch bei THE, dass die Auswahl und Ausgestaltung der Prüfungsaufgaben mit den Lehrzielen konform gehen und zu den vorausgegangenen Lehr-Lernaktivitäten passen sollten.

Wichtig ist aus didaktischer Sicht darüber hinaus die Vorbereitung der Studierenden auf THE: Lehrende sollten ihre Studierenden vorab rechtzeitig und am besten mit Prüfungsbeispielen über THE informieren, ihnen die Merkmale und Herausforderungen der gewählten Aufgabenformen erklären, Bewertungskriterien transparent machen und Tipps zur eigenen Prüfungsvorbereitung geben. Explizit gemacht werden sollte auch, dass bei der Aufgabenkonzeption in THE Nachschlagen und Absprachen einkalkuliert werden, damit Studierende die Prüfungsvorbereitung nicht unterschätzen oder falsch angehen. Im Idealfall haben die Studierende die Möglichkeit, mit einer THE exemplarisch zu üben.

Eine aus meiner Sicht gute umfangreiche Darstellung zu Take Home Exams findet sich an der Universität Mainz hier. Meine eigenen Ausführungen habe ich mit diesen Seiten abgeglichen. Die Universität Hamburg verwendet den Begriff „Take Home Exam“ leider umfassender und subsumiert darunter auch andere digitale Prüfungsformen. Das halte ich für keine so gute Idee, weil damit die Kommunikation schwieriger wird. Die hier verwendete Definition scheint mir zudem eine weit verbreitete zu sein (auch international). Ähnlich wie beim Begriff „Hybride Lehre“ wäre es sehr erstrebenswert, zu einem relativ einheitlichen Vokabular zu kommen, um sowohl für die Lehrpraxis als auch für die hochschuldidaktische Forschung eine verlässliche Kommunikationsgrundlage zu haben.

4 Kommentare

  1. Es ist derzeit EINE Lösungsoption und man wird nun in der Breite Erfahrungen machen und diese Erfahrungen auswerten müssen. Für Massenfächer, die bisher Prüfungen via Klausuren realisiert haben, ist es sicher aus verschiedenen Gründen keine ideale Alternative. Aber da muss man ggf. das ganze Prüfungssystem auch mal überdenken: Wir hätten aktuell einen guten Anlass dazu. Mit überschaubaren Gruppengrößen in Veranstaltungen habe ich selber einige Jahre durchaus gute Erfahrungen mit „24-Stunden-Hausarbeiten“ gemacht. Vermutlich aber ist das auch fachabhängig. „Blauäugig“ aber scheint mir ein etwas zu pauschales Urteil zu sein.

  2. Nun ja, „an einem Messer kann man sich schneiden“ ist auch ein pauschales Urteil.

    Je mehr man lesen und schreiben muss, desto größer wird der Druck zum Ghostwriten-Lassen gerade für die Studierenden, die schon bisher mit der Sprache Probleme haben – und das werden anteilig immer mehr. In meinem zweiten Text oben hatte ich das erwähnt.

    „[D]urchaus gute Erfahrungen“: Wie viele dieser Arbeiten stammten von Ghostwriter*innen inkl. Verwandten und Bekannten? Die absence of evidence ist nicht die evidence of absence. Was aktuell im Internet zu sehen ist, lässt aber darauf schließen, dass da im Verborgenen und neuerdings auch ungehemmt im Offenen (mein erster Text oben) allerhand passiert.

    Ich persönlich mache nur noch mündliche (Video-)Prüfungen – nicht zuletzt, weil Gedankengänge dort viel leichter zu kommunizieren sind. Aber diese Prüfungen sind auch nicht mehr lange sicher; schon jetzt kann man ohne nennenswerten Aufwand in der Videokonferenz recht plausibel mit einem fremden Gesicht auftreten:
    https://j3l7h.de/blog/2021-02-07_12_34_Einstein%20in%20der%20m%C3%BCndlichen%20Pr%C3%BCfung

  3. Kritik ist ein wichtiger Teil der Wissenschaft.
    Jedoch hinterlässt ein Blauäugigkeitsvorwurf und das Messerbeispiel insbesondere von einem Wissenschaftsexperten bei mir Irritation; Ob da vielleicht ein Ghostwriter am Werke war?

    Sachlich verhält es sich doch so, dass in einer Gruppe von Prüflingen nach Studien von z.B. Prof. Dan Ariely immer geschummelt wird, wenn es einfacher ist, als die Hürde regulär zu überwinden. Die Hausarbeit auf XX Std. zu begrenzen ist m.E. eine gute Möglichkeit den Fokus in Richtung der selbstständigen Bearbeitung der Aufgabe zu verschieben. Werden die o. g. Hinweise zur Ausgestaltung bedacht und Aufgaben variert, wird ein Ghostwriter sicherlich schnell so teuer, dass wir wieder bei dem üblichen geringen Prozentsatz landen, der sich für mein Aufwandsempfinden zu schwer davon abhalten lässt zu täuschen.

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