Verhältnisse wie am Bau

Man versteht ja ehrlich gesagt nicht so recht, wohin eigentlich die faktischen und versprochenen Gelder fließen, die für das in letzter Zeit auch politisch wieder hoch gehaltene Gut „Bildung und Wissenschaft“ (woran man angeblich NICHT sparen will) locker gemacht werden sollen. Was man dazu von Kollegen hört, selbst erlebt und in der Presse liest, weist ja nun doch eher in die entgegengesetzte Richtung. Dazu gehört auch ein Artikel im Spiegel online (hier), der am Beispiel der TU Kaiserslautern zeigt, was passiert, wenn man die üblichen Routinen öffentlich macht – nämlich z.B. die Vergabe und Bezahlung von Lehraufträgen. Wer Universitäten von innen kennt, den dürfte der Beitrag über die extrem schlechte (oder auch ausbleibende) Bezahlung von Lehraufträgen nicht wundern und wahrscheinlich nur ein Achselzucken hervorrufen. Und in der Tat gewöhnt man sich auch schnell an solche Absurditäten. Diese werden einem immer erst dann wieder bewusst, wenn man sie mit anderen Arbeitstätigkeiten vergleicht und Sätze fallen wie: „Für das, was viele Hochschuldozenten pro Stunde bekommen, würden die meisten Handwerksmeister nicht einmal ihr Werkzeug auspacken.“ oder „ …für manche habilitierte Wissenschaftler [Anm.: z.B. Privatdozenten ohne Anstellung an der Uni] wäre Hartz IV ein finanzieller Aufstieg.“ Noch schlimmer finde ich allerdings, dass man Betroffenen in diesem Zusammenhang den Mund verbietet (Zitat Spiegel-Artikel): „Die Warnungen seiner Uni-Leitung an Journalisten, eine Berichterstattung könne der Karriere des jungen Kollegen erheblich schaden, werden vermutlich intern noch viel deutlicher formuliert.“ Was wirklich nervt, ist die aktuelle Doppelzüngigkeit: Die Loblieder auf Bildung und Wissenschaft auf der einen Seite und dann auf der anderen Seite das vehemente Wegsehen bei Verhältnissen, die manchmal anmuten wie am Bau. Da würde ich mir mehr Ehrlichkeit wünschen und vor allem auch mehr Sachkenntnis und direkte Erfahrungen seitens der politisch Verantwortlichen.

Hellseher gesucht

Vor kurzem habe ich an einer Expertenumfrage teilgenommen, bei der man zwar nicht hellsehen, aber doch irgendwie in die Zukunft schauen und seine Einschätzung abgeben muss, wie sich eine bestimmte Technologie bis zu einem bestimmten Jahr in einem bestimmten Bereich entwickeln wird. Gut ist ja schon mal, dass es dabei schon lange nicht mehr digitale Technologien an sich geht, sondern dass verschiedene Technologiegruppen unterschieden werden. Auch werden die Bereiche eingegrenzt: z.B. Schulen, Hochschule, Unternehmen.

Trotzdem: Mir ist da nie wohl dabei. Erstens ist auch die genannte Differenzierung immer noch viel zu grob. Kann man z.B. Mittelstandsfirmen mit großen Konzernen in einen Topf werfen, eigentümergeführte Betriebe mit AGs vergleichen? An den Hochschulen wissen wir, wie groß die Unterschiede zwischen den Disziplinen sind sowohl in Bezug auf die Lehre als auch in Bezug auf die Forschung – ist es sinnvoll, das in einem Atemzug zu behandeln bzw. zu bewerten? Zweitens mischen sich bei Antworten innerhalb von Umfragen ja doch immer wahrscheinliche und erwünschte Szenarien. Wenn ich mich da selbst beobachte, merke ich, dass ich das beim Antworten nicht immer ganz auseinanderhalte – ja vielleicht auch gar nicht auseinanderhalten will, denn: Wenn etwas zwar unwahrscheinlich, aber immerhin wünschenswert ist, können ja die Wünsche einer kritischen Masse von Experten auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen oder? Meinungen konstruieren Wirklichkeit zumindest mit. Drittens frage ich mich, was das eigentlich bringt: Ist das verkappte Marktforschung, damit zur rechten Zeit die rechten Produkte platziert werden? Oder glaubt jemand im Ernst, dass anhand solcher Ergebnisse Curricula umgeschrieben und Lehrende fortgebildet werden?

Meine Skepsis gegenüber diesen Studien nimmt auch den „Horizon Report“ nicht aus, der – einige Blogger haben bereits darauf verweisen – auch in deutscher Sprache vorliegt (kann man hier abrufen). Positiv ist, dass der Report am Ende eine recht genaue Beschreibung des Vorgehens liefert, also zumindest Transparenz schafft, wie die Ergebnisse zustande kommen. Die Resultate dieses Berichts wirken nicht eben sonderlich überraschend: Open Content und mobile Rechnernutzung – so die Vorhersage – werden sich kurzfristig in Lehre und Forschung durchsetzen. Elektronische Bücher und einfache Formen der „augmented reality“ (will heißen: Verschmelzung digitaler und realer Aktivitäten) werden mittelfristig wichtiger werden, und die visuelle Datenanalyse sowie gestenbasiertes Computing (im Unterhaltungsbereich bereits existent) stehen am langfristigen Zeithorizont. Mal ungeachtet davon, dass es meines Wissens schon eine ganze Reihe von Forschern gibt, die mit der visuellen Datenanalyse in Forschung und Lehre arbeiten, kann ich mir eher nicht vorstellen, dass sich Hochschulen in zwei bis drei Jahren (das gilt heute schon als langfristig) mit spielkonsolenähnlichen Geräten ausstatten werden. Vielleicht sollten wir uns manchmal mehr um die Gegenwart und darum kümmern, wie wir die aktuellen Probleme lösen könnten.

Vielleicht haben wir alles nur falsch verstanden?

Es war und ist recht still um die Bologna-Konferenz in Budapest und Wien am 11. und 12. März. Ein paar wenige Zeitungen haben darüber berichtet (z.B. die ZEIT hier) und es gibt ein kurzes Abschlusspapier (hier), in dem die Erfolge des Bologna-Prozesses allen Protesten zum Trotz beschworen werden. Deshalb wird auch an mehreren Stellen bekräftigt, dass man an den Zielen weiter festhalten wolle, die auch für die nächste Dekade gelten sollen. Was man aber verbessern müsse, ist die Kommunikation speziell mit den Studierenden und den Hochschulangehörigen, denn die – so liest es sich jedenfalls – hätten wohl einiges nicht so ganz verstanden. Also: Weiter so, aber mit besserem Marketing? Erfreulicherweise wird im abschließenden Zweiseiter immerhin die Freiheit von Forschung und Lehre eigens hervorgehoben und zumindest schriftlich festgehalten, dass Hochschulen und Wissenschaft wichtig für den Erhalt und die Weiterentwicklung einer Demokratie sind. Wichtig finde ich das als Pendant zu wirtschaftlichen Interessen, die sich wie in allen Bereichen der Gesellschaft als dominant erweisen. Aber irgendeine konkrete Idee, was man besser machen könnte, lese ich da nicht heraus. Man nimmt die Proteste aus dem Jahr 2009 zwar offiziell zur Kenntnis, reagiert aber offenbar vor allem mit der Folgerung, nicht richtig kommuniziert zu haben – wobei nicht ganz klar ist, wer da genau der Adressant ist: die Nationen, die Minister, speziell in Deutschland die Bundesländer, die Hochschulen, die Hochschullehrer oder die Studierenden?

Ich würde mir wünschen, dass man die Akkreditierungsverfahren endlich mal radikal ändert, dass man Bürokratie abbaut (die uns lähmt und nichts nützt) und dass man aufhört, jedes Merkmal in quantifizierter Form erfassen zu wollen. Gut am Bologna-Prozess ist, dass dieser die schon vorher bestandenen schlechten Rahmenbedingungen vor allem in überlaufenen Fächern so richtig manifest gemacht hat. Schlecht ist, dass trotzdem alles weitergeht wie bisher, dass sich unter anderem die Verteilung von Mitteln an anderen Kriterien festmacht als am bestehenden Bedarf. All das ist Bildungspolitik und ich würde mir erwarten, dass genau diese Punkte in entsprechenden politischen Gremien und Konferenzen – zu der ja wohl auch die Bologna-Konferenzen gehören – diskutiert werden. Oder haben wir das auch nur falsch verstanden?

Nachtrag am 22.03.2010: Seit wenigen Tagen gibt es nun auf dem Deutschen Bildungsserver ein Dossier zum Thema mit weiterführenden Informationen, nämlich hier.

Wo ist eigentlich das Problem?

Anlässlich einiger Blogbeiträge zur diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Hochschuldidaktik (dghd) zum Thema “Fachbezogene und fachübergreifende Hochschuldidaktik – voneinander lernen” an der TU Dortmund (z.B. von Kerstin Mayrberger und Sandra Hofhues) habe ich mich in den letzten Tagen wieder mal gefragt, wie das eigentlich kommt, dass zwei „Gruppen“ von Wissenschaftlern und Praktikern an EINEM Phänomen arbeiten und sich doch beäugen als kämen sie von unterschiedlichen Planeten. Gut, zuweilen gibt es das auch woanders, z.B. wenn sich ein Schulmediziner und ein Heilpraktiker gegenüberstehen und auf denselben Patienten schauen. Auch da ist das Unverständnis groß und jeder beansprucht für sich, die Wahrheit zu besitzen und den Patienten heilen zu können – aber womöglich können die beiden sich zumindest darauf einigen, dass sie sich gerade denselben Patienten anschauen. Das schaffen bisweilen noch nicht mal Hochschuldidaktiker und E-Learning-Vertreter. Und daran sollen allein die falschen oder falsch konnotierten oder überholten oder sonst irgendwie eben nicht treffenden Begriffe schuld sein? Ich weiß nicht … vielleicht ist das ja auch nur eine Ausrede. Vielleicht wollen die beiden „Lager“ auch gar nichts miteinander zu tun haben – so wie Schulmediziner und Heilpraktiker sich einfach aus dem Weg gehen. Allerdings kann der Patient selbst entscheiden, wo er hingeht, der Studierende kann das nur bedingt. Es ist mehr oder weniger Zufall, wo er landet, ob die Lehrangebote, an denen er teilnimmt, durch die Hände von Hochschuldidaktikern oder E-Learning-Experten gegangen oder aber – was noch wahrscheinlicher ist – lehr-lerntheoretisch quasi unbefleckt sind. Also, ein optimaler Zustand ist das nun wirklich nicht. Und so richtig verstehen kann ich diesen Graben auch nicht: E geht uns doch allen darum, das Lernen und Lehren zu verbessern, wir berufen uns alle auf wissenschaftliches Denken und Handeln, wir agieren in denselben Kontexten: Wo ist eigentlich das Problem?

Wo viel Rauch ist, wird wohl auch viel Feuer sein

Vor ca. drei Monaten hat Werner Sesink im Rahmen der Vortragsreihe des Forums offene Wissenschaft an der Universität Bielefeld einen Vortrag gehalten mit dem Titel „Wissenschaft für die Gesellschaft? Exzellenzinitiativen, Elitehochschulen, Rankings: Wie verändern sie den Wissenschaftsbetrieb?“ Ich habe die Schriftfassung bekommen und auf meine Bitte hin hat Werner Sesink nun hier den Text online zugänglich gemacht (inklusive Präsentation, nämlich hier). In seinem Vortrag greift er die Rhetorik des Leistungssports auf, mit der man die Hochschulen nun schon seit längerem heimsucht (schneller, höher, weiter), und versucht nachzuweisen, dass es sich dabei keineswegs nur mehr um Metaphorik, sondern um die Schaffung einer neuen Wirklichkeit handelt, die mit dem ökonomischen Konkurrenzprinzip unserer Gesellschaft konform geht. Zudem setzt er sich mit der Frage der gesellschaftlichen Legitimation von Wissenschaft auseinander und zieht doch in Zweifel, ob das an vielen Orten zu beobachtende Marketing-Gehabe (auch hier könnte man meinen, dass Fanclubs diverser Fußballvereine Pate gestanden haben) hierzu ein universitätsangemessener Weg ist. Gesellschaftliche Legitimation und Verantwortung sehen für Werner Sesink anders aus und laufen in hohem Maße über die Lehre – die man nun allerdings ebenfalls nur via Wettbewerbe ankurbeln will (in der Annahme, dass auch hier Rankings einen öffentlichkeitswirksamen Legitimationseffekt erzielen) .

Jedem, der sich (gewollt oder ungewollt) mit der Ökonomisierung unserer Hochschul- bzw. Bildungslandschaft auseinandersetzt, kann ich den Text nur empfehlen. Anschaulich stellt er die Schwierigkeit der Quantifizierung wissenschaftlicher Leistungen dar, die nun einmal in ihrer Komplexität nicht so leicht zu erfassen sind, wie die „Güte“ eines Schnellaufs, die sich per definitionem eben an der Geschwindigkeit tatsächlich messen lässt. (Die Verselbständigung der Messmetapher – das nur als Nebenbemerkung – ist allerdings auch innerhalb des Wissenschafts- bzw. Forschungsbetriebs in unseren Fächern eines der Hauptprobleme .) Die Analogie zum Sport lässt sich noch ausbauen, wenn man das Doping dazu nimmt – wofür Sesink ein weitere Bild bringt, das zum Abschluss nochmal das Leseinteresse anstoßen soll. Das Bild bezieht sich auf die mitunter absurde Situation, die eintritt, wenn sich eine Universität, eine Fakultät oder ein Studiengang um einen „Bundesliga-Platz“ bemüht:

„Wo Rauch ist, so heißt es, muss auch Feuer sein! Und wo viel Rauch ist, wird wohl auch viel Feuer sein. Aber der Indikator ist nur solange als Spur von etwas zu lesen, als er nicht absichtlich erzeugt wird; denn dann zeugt er nur noch von der Absicht, eine Spur zu legen. Wenn ich weiß, dass da hinter den Bergen irgendwo die Ranking-Spezialisten Ausschau halten nach den Rauchzeichen, die ihnen anzeigen, dass das für sie unsichtbare Feuer der Forschung brennt, und wenn ich weiß, dass es für die Rauchzeichen Geld oder Stellen oder sonstwas gibt, das angeblich das Feuer der Forschung weiter schüren soll, dann werde ich – in Entbehrung des Feuers – schon meine Mittel und Wege finden, um ordentlich Rauchzeichen zu erzeugen und die Mittel in meine Rauchzeichen- Erzeugungseinrichtung zu lenken – um so weiterhin den Ranking-Spezialisten zu bestätigen, dass die Mittel an die richtige Adresse gelangt sind. Feuer wurde zwar keins entfacht; aber eine Inflation an Rauchzeichen.“

Blogger und die Liebe zur Autonomie

Blogs sind etwas für Menschen, die die Autonomie lieben – so meine These und meine ganz persönliche Erfahrung. Wenn das stimmen sollte (und für mich stimmt es), folgt daraus, dass kollektivistische Formen des Arbeitens und Lernens eher ans andere Ende der Präferenzskala rutschen – so auch eine kollektive Rezension. Die kann, so meine ich, allenfalls als eine Art Brainstorming fungieren und in dieser Funktion höchst hilfreich sein. Zu einer kohärenten Argumentation führt das sicher nicht. Warum ich das schreibe? Weil ich mir gerade Gedanken zu Rolf Schulmeisters „Replik“ auf den Web-Wirbel um seinen Aufsatz zur Kommentarkultur in Blogs geschrieben und ganz ohne Blog 😉 online zugänglich gemacht hat, nämlich hier. In diesem Replik stellt Rolf vier Fragen:

Frage 1: Hat das Rezensentenkollektiv genauer gelesen als der Einzelne?

Meine Antwort: Genauer nicht, aber jeder anders und das ergibt eine neue Form der „Genauigkeit“. Anders gelesen hat jeder in Abhängigkeit von seiner emotionalen Befindlichkeit (stolz, beleidigt, verletzt, gleichgültig etc.), seiner Erfahrung und seinem Vorwissen (neuer Blogger, alter Hase im Bloggen, Experte für Blog-Literatur etc.).

Frage 2: Demonstriert das Rezensentenkollektiv eine rationale Textkritik?

Meine Antwort: Sicher nicht – wieso auch? Seit wann erhöht ein Kollektiv die Rationalität? Ist es nicht eher so, dass Gruppendynamik (wie man sich auch in Kirchen oder politischen Parteien kennt) zu irrationalen Prozessen verführt? War das nicht schon immer so?

Frage 3: Führt eine kollektive Rezension zur Vermeidung von Fehlern und irrelevanten Abweichungen?

Meine Antwort: Sagen wir es mal so – es kann dazu führen, dass Fehler aufgedeckt, dass Aussagen relativiert und Abweichungen „eingefangen“ werden. Im Ergebnis aber werden eher einzelne Ansichten nebeneinander gereiht als zu einem neuen Ganzen verschmolzen, weil letzteres aufgrund gegenteiliger Einschätzungen gar nicht geht: Wenn einer sagt, man hätte einen Blogger fragen müsse, ob man ihn analysieren darf, und ich entgegne, dass das der Logik eines öffentlichen Blogs widerspricht, dann kann man das nur nebeneinander stehen lassen – also zwei Meinungen.

Frage 4: Führt die kollektive Überarbeitung zu einer stringenten und fokussierten Argumentation?

Meine Antwort und beginnt mit einer Frage: Ist die kollektive Überarbeitung der kollektiven Rezension gemeint? Wenn ja, dann ist das eher keine „Überarbeitung“, sondern eine Fortsetzung. Eine Überarbeitung wäre es für mich, wenn sich eine Einzelperson oder eine kleine überschaubare Gruppe die Mühe machen würde, die Brainstorming-Ergebnisse zu einem Ganzen zusammenführen. Das Resultat würde dann aber garantiert nicht mehr jedem am Brainstorming-Beteiligten gerecht werden und/oder in den Kram passen.

Hat man als Blogger Lust auf eine kollektive Rezension? Also ich eher nicht: Ich bin neugierig auf die Meinung der anderen, finde darin neue Gedanken, die mir eher nicht durch den Kopf gingen und mir etwas Neues aufzeigen, treffe auf Meinungen, die ich nicht nachvollziehen kann, die mir aber helfen, den eigenen Standpunkt zu schärfen etc. Es ist also eher ein kollektives lautes Denken, keine kollektive Argumentation – letzteres habe ich ehrlich gesagt noch nicht erlebt. Denken will ich selber, aber die Ergebnisse teile ich gerne mit anderen.

Das Salz in der Suppe

Als ich die Festschrift für Stefan Aufenanger in der Hand hielt (Info hier), war der Text, von dem ich schon ahnte, dass er eine kontroverse Diskussion auslösen wird, noch nicht online. Es geht um Rolf Schulmeisters Artikel „Ansichten zur Kommentarkultur in Weblogs“ (Preprint hier). Jetzt, da nun das Preprint online ist (und es hat sich dank Twitter – auch auch ohne 😉 – wie ein Lauffeuer verbreitet), ist die Kommentarkultur in vollem Gange: Michael Kerres, Joachim Wedekind und Jochen Robes haben rasch reagiert; Sandra war noch schneller und hat ein etherpad-Dokument aufgesetzt (hier), das von vielen „beforschte Bloggern“ bereitwillig zur Kommentierung der mangelnden Kommentarkultur in Weblogs aufgegriffen wurde. Ich kommentiere jetzt die Kommentare zur Kommentarkultur nicht, empfehle einfach nur die Lektüre des Textes und der Kommentare. Als Autor jedenfalls kann man sich nur freuen, wenn das Geschrieben solche Aufmerksamkeit auf sich zieht – ist das doch bei wissenschaftlichen Beiträgen durchaus nicht an der Tagesordnung! Und kontroverse Thesen sind doch einfach das Salz in der Suppe – auch im Wissenschaftsbetrieb!

Nachtrag: Auch Christian Spannagel hat nun speziell die ihn betreffenden Passagen im Text zur Kommentarkultur ausführlicher kommentiert (hier). Nachtrag 2: Und jetzt noch Frank (hier).

Ein guter Tag für exzellente Standorte

Es bleibt wohl erst mal dabei: Empirische Bildungsforschung, das ist vor allem PISA – und deswegen gibt es jetzt auch einen „PISA-Verbund“ zwischen der Technischen Universität München (TUM), dem Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt am Main und dem Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) in Kiel. Drei „exzellente Standorte“, wie unter Ministern betont wird, mit denen man die „Exzellenz der deutschen Bildungsforschung“ weiter ausbauen will – so der Wortlaut der dazugehörigen Pressemeldung (hier). Large Scale Assessments und Studien zum Erreichen nationaler Bildungsstandards stehen dabei klar im Vordergrund. In der Öffentlichkeit und wohl auch in vielen Bereichen der wissenschaftlichen Community ist damit längst entschieden, was empirische Bildungsforschung heißt und was nicht: Es heißt „große Studien“, es heißt „Vergleich“, es heißt Kompetenzmessung bezogen auf Ziele, die als Standards politisch relevant sind. Da mögen Diskussionen über die empirische Bildungsforschung in kleinen Workshops, Forschungswerkstätten und in EduCamps (siehe z.B. hier) von hoher Qualität sein, sie mögen methodische und erkenntnistheoretische Argumente zusammentragen, sie mögen den wissenschaftlichen Nachwuchs zum Nachdenken anregen etc.; außerhalb derer, die sich dafür interessieren, wird das aber wohl kaum wahrgenommen oder irgendwie handlungswirksam werden.

„Heute ist ein guter Tag für die Bildungsforschung“, so die Bildungsministerin anlässlich der neuen Allianz und des neuen Geldsegens. Und natürlich ist es gut, wenn zusätzliche Mittel in die Bildungsforschung fließen und Vergleichsstudien sind ohne Zweifele EINE wichtige Säule in der Forschungslandschaft. Warum aber macht man nicht viel deutlicher, wozu diese Forschung taugt und wozu nicht? Was sie leisten kann und was sie außen vor lassen muss? Warum die Exzellenz-Rhetorik für eine Forschungsrichtung, die ohnehin die Vormachtstellung längst erlangt hat? Nun, vielleicht sollte man sich angesichts der Milliarden für andere Projekte wegen 2,6 Millionen, die zusätzlich in den „PISA-Verbund“ fließen, nicht groß aufregen …

Begrenzter Überraschungswert

Jeder, der sich mit der Gestaltung von Lernumgebungen beschäftigt, trifft unweigerlich auf die von Terhart bereits 2002 als „fremde Schwestern“ bezeichnete Allgemeine Didaktik und Lehr-Lernforschung und ihre schwierige Beziehung (nachzulesen in der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 16, 77-86). Nun widmet sich diesem Beziehungsdrama zwischen zwei bildungswissenschaftlichen Disziplinen ein ganzes Buch mit dem Titel „Allgemeine Didaktik und Lehr-Lernforschung. Kontroversen und Entwicklungsperspektiven einer Wissenschaft vom Unterricht“, herausgegeben von K.-H-. Arnold, S. Blömeke, R. Messner und J. Schlömerkemper (Jahr: 2009; Verlag: Klinkhardt). Bereits ein Jahr vorher (2008) hat die Zeitschrift für Erziehungswissenschaft ein Sonderheft (mit der Nr. 9) zu dem Thema herausgebracht (siehe hier). Während dort tendenziell mehr Pädagogische Psychologen zu Wort kommen, vereint das genannte Buch eher pädagogische Stimmen.

Für jemanden, der sich von der Wissenschaft nicht nur die Beschreibung und Erklärung von Lehr-Lern- und Bildungsphänomenen, sondern auch einen direkten oder zumindest indirekten Einfluss der theoretischen und empirischen Erkenntnisse auf die Praxis erhofft, ist diese Unfähigkeit zur Kooperation unbegreiflich. Wer tiefer geht und sich wissenschafts- und erkenntnistheoretische Voraussetzungen der beiden „Lager“ betrachtet, kann freilich die Probleme nachvollziehen, aber die Frage bleibt: Warum werden diese nicht gelöst? Aus welchem Grund setzen sich einzelne Lösungsideen (z.B. Vorschläge von Aebli) nicht oder kaum durch? Wie kann es sein, dass sich stattdessen Gräben vertiefen oder allenfalls mit dem Material des gerade Stärkeren provisorisch zugeschüttet werden?

Hängen geblieben bin ich während der Lektüre des neuen Bandes von Arnold et al. (2009) beim Beitrag von Jörg Schlömerkemper, den es (was für ein Glück!) auch online gibt (hier): Unter dem Titel „Das Allgemeine in der Empirie und das Empirische im Allgemeinen“ formuliert er einen aus meiner Sicht aussichtsreichen Versuch, zumindest einige der Hindernisse zu überwinden, welche die beiden Lager trennen. Eine wichtige Rolle spielt bei ihm der Begriff des Oszillierens. Schlömerkemper postuliert, die philosophisch orientierte Reflexion über die Ziele von Bildung und ihre anthropologischen Bedingungen einerseits und die empirisch orientierte Analyse tatsächlich anzutreffender Prozesse in der Bildung andererseits als Endpunkte eines Spektrums zu sehen, zwischen denen die Wissenschaft oszillieren müsse. Mit anderen Worten: Die allgemeine Reflexion muss sich der empirischen Überprüfung stellen und empirische Befunde müssen bezogen auf Normen/Sollwerte reflektiert werden (Seite 163). Das ist mehr als gegenseitiger Respekt oder Duldung zwischen den „fremden Schwestern“, so der Autor. Das ist eine qualitative Optimierung bildungswissenschaftlicher Forschung – und das sehe ich auch so. Exemplarisch am Verhältnis von Bildung und Kompetenz (zwei Begriffe, die in den letzten Jahren ja häufig ins Feld geführt werden) verdeutlicht er seine Idee einer „hermeneutisch-empirischen Schnittstelle“. Ich finde das ausgesprochen interessant und werde versuchen, das noch besser zu verstehen und mit meinen Überlegungen zu diesem Thema zu verbinden.

Aktuell aber sind wir von solchen Integrationsglücksfällen wohl noch weit entfernt, wenn man das Gros der Allgemeinen Didaktik und Lehr-Lernforschung vor Augen hat. Die gegenseitige Unverständnis bringt Andreas Gruschka im Band von Arnold et al. (2009) aus meiner Sicht gut auf den Punkt, wenn er sagt: „Wenn die Unterrichtsforschung erklärt, dass die Wahrscheinlichkeit erfolgreichen Lernens steigt unter der Voraussetzung, dass der Lehrer fachkompetent und den Schülern zugewandt ist, er klare Aufgaben stellt und die Schüler mit dem Stoff aktiviert umgehen lässt, so kann man es den Didaktikern nicht verdenken, dass sich ihre Überraschung darüber in Grenzen hält“ (S. 98 f.).

Betriebswirtschaftslehre bei Tchibo

Inzwischen sind die Vorträge der Campus Innovation 2009 (ich habe hier davon berichtet) online. Da ich einen halben Tag der Veranstaltung leider verpasst habe, bieten die Aufzeichnungen nun eine schöne Möglichkeiten, z.B. Rolf Schulmeisters Vortrag doch noch (hier) zuhören. Sein Beitrag bietet wohl eine ganze Menge an Diskussionsstoff, auf den ich hier nicht in der möglichen Vielfalt eingehen kann.

Was mir aber besonders im Kopf hängen geblieben ist, ist der Hinweis auf die „Akademisierung der Berufsausbildung“. Das ist quasi das Pendant zu meinen Überlegungen, dass und warum das Universitätsstudium zunehmend als Berufsqualifizierung verkauft wird (siehe z.B. hier). Es ist eine Frage der Perspektive und inzwischen glaube ich, dass beides zutrifft: die Berufsausbildung wird auf vielen Gebieten akademischer und das Universitätsstudium berufspraktischer. Ja, warum nicht?, könnte man da sagen. Sind dann nicht alle zufriedener? Ist es nicht das, was wir alle wollten? Raus sowohl aus dem Elfenbeinturm als auch aus der Werkhalle und rein in die Wissensarbeit? Gemeinsame Sache zwischen Wirtschaft und Wissenschaft? Ist das nicht die Zukunft? Theoretisch kann man wohl durchaus einige Vorteile in solchen Vermengungstendenzen sehen. Ganz praktisch aber ergeben sich sehr viele Probleme, denn den Lehrenden fehlen Anschauung und Kompetenzen, um solche Versprechen wirklich einzulösen.

Vorrangig jedoch bleibt für mich die grundsätzliche Frage, wo man – wenn nicht an einer Universität – noch lernen kann und darf, klar zu denken, kritisch zu hinterfragen, systematisch zu handeln, mit anderen zusammen Dingen auf den Grund zu gehen, die im operativen Geschäft der Berufswelt nicht mehr thematisiert werden, zu lernen, über den eigenen Gartenzaun zu schauen, sich selbst und die eigenen Potenziale kennenzulernen etc. Freilich, all dies ist mit einer Auffassung von „Unis als Dienstleister“, wie Rolf Schulmeister formuliert, nicht gut vereinbar – oder doch? Wäre es nicht eine Dienstleistung an unsere Gesellschaft und unser demokratisches System? Vielleicht schrecken ja Rolfs Beispiele von der „Betriebswirtschaftslehre bei Tchibo im Sonderangebot“ doch einige ab, an das Heil dieser neuen Verbünde zwischen Wissenschaft/Universität und Wirtschaft/Konzernen zu glauben. Vielleicht aber ist der Zug hier schon abgefahren und nur mehr mit geballtem Widerstand aufzuhalten.