Was man sich öfter leisten sollte

Das ZEITLast-Projekt, auf das ich in diesem Blog bereits verwiesen habe (hier), hat großes Interesse auch in den Massenmedien auf sich gezogen. Aber, so Rolf Schulmeister: „Unsere Ergebnisse werden … auch immer wieder ungläubig betrachtet und angesichts so gewichtiger Befragungen wie des Studierendensurveys oder der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks angezweifelt, in Kommentaren zu Zeitungsartikeln im SPIEGEL, der ZEIT etc., in Briefen an uns und in Artikeln anderer Wissenschaftler.“ Die Zweifel, so Schulmeister, könnten daher rühren, dass die Methodik nicht eingehend studiert werde, wie sie im Buch (leider nicht online zugänglich) dargestellt werde. Nun gibt es online einen Text zu lesen (hier), der die Kritik kritisiert und auf einige Probleme anderer Studien und darauf hinweist, wie die ZEITLast-Studie „richtig“ zu lesen ist.

Über die Studie und die spezielle Kritik plus Metakritik hinaus finde ich es sehr sinnvoll, solche Auseinandersetzungen in dieser Form zu führen. Viel zu wenig setzen wir uns wirklich intensiv mit einzelnen Konzepten oder Studien in Zeitschriftenartikeln oder Büchern auseinander – immer in der Zeitnot, die unter dem Druck entsteht, selbst ausreichend zu publizieren. Den Erkenntnisfortschritt befördert das sicher nicht. Von daher lohnt die Lektüre auch als Beispiel für einen textbasierten Dialog, den wir uns öfter „leisten“ sollten.

Was für eine Freundschaft!

„Elf Einsprüche gegen den didaktischen Betrieb“ – so lautet der Untertitel von Andreas Gruschkas Buch zur „Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung“, geschrieben 2002 mit einer (allerdings nicht aktualisierten) Neuauflage 2011. Auf 463 Seiten kritisiert Gruschka in diesem Buch alles, was in der Allgemeinen Didaktik Rang und Namen hat (damit bezieht sich die Kritik fast ausschließlich auf die Didaktik für den Schulbereich, auch wenn man hier für andere Lehr-Lernkontexte durchaus Anleihen macht). Das in der Einleitung erklärte Ziel ist eine kritische Theorie der Vermittlung und dazu, so Gruschka, sei die systematische Kritik am didaktischen Betrieb erforderlich (S. 20). Ich denke nicht, dass ich wirklich alle Passagen dieses Buches – eines der wenigen, die ich in letzter Zeit tatsächlich komplett gelesen habe – richtig verstanden habe. Es gab beim Lesen für mich zustimmende Momente, aber auch sehr viele, in denen ich den Kopf geschüttelt und mich gefragt habe, was für einen Didaktik-Begriff Gruschka eigentlich hat (ja, welchen?). Stellenweise war ich mir sicher, dass es eher um eine Schulkritik und nicht um eine Didaktik-Kritik geht. In einigen Kapiteln kam etwas Wut hoch, weil die Kritik an allem und jeden an mehreren Stellen doch recht hochmütig wirkt, und wenn Gruschka mit seiner ausgeprägten Polemik Autoren wegen ihrer Polemik kritisiert, ist dies doch etwas befremdlich. An nicht wenigen Sätzen bin ich hängengeblieben und habe mich gefragt, was denn wohl die Botschaft ist, nachdem ich nach mehreren Minuten erst einmal die grammatikalische Struktur entzerrt hatte. Warum man eine hohe Verständlichkeit von Texten fast schon reflexhaft mit der Verhinderung von Bildung gleichsetzen muss (dies wird im Buch des Öfteren deutlich gemacht), bleibt mir ein Rätsel. Wie ich mir letztlich eine gelingende „Vermittlung durch ihre Negation“ konkret vorzustellen habe, ist eine offene Frage geblieben. Gruschkas Groll auf die Didaktik und die von ihm beobachtete Didaktisierung unserer Gesellschaft wird in einer Art beschrieben, die etwas Elitäres hat: Die Sache selbst solle ohne den Pfusch der Didaktiker (so jetzt meine Lesart) für sich sprechen, und wer diese nicht hören kann, hat halt Pech gehabt. Daneben bringt Gruschka allerdings auch Beispiele für „gelungene Vermittlung“ (die also offenbar doch möglich ist). Warum grade die nicht auf didaktische Entscheidungen zurückzuführen sein soll, verstehe ich nicht. Trotzdem habe ich das Buch zu Ende gelesen. Warum?

So ganz klar ist es mir auch noch nicht. Vielleicht fange ich mal bei dem Grund an, der dafür eher nicht in Frage kommt, und das ist Gruschkas argumentative Vorgehensweise, die ja auch einen bestimmten Typus von Argumentation darstellt. Diese Vorgehensweise nämlich überzeugt mich nicht: Mir ist der kritische Rundumschlag dann zu wenig, wenn am Ende die eigene Positionierung, Folgerungen und Vorschläge für alternative „Lösungen“ oder Wege zur Lösungsentwicklung im Bereich der Didaktik fehlen oder zumindest sehr dünn ausfallen. Wahrscheinlich überzeugt eine solche Argumentationsweise nur, wenn man in der Kritik einen Selbstzweck sieht. Für mich persönlich kann die Kritik jedoch nur ein Mittel zum Zweck sein. Hier beginnt freilich bereits ein Streit darüber, was Aufgabe der Wissenschaft bzw. der Wissenschaftler ist (aber dazu ein anderes Mal mehr). Wenn also das nicht der Grund zum Weiter- und Zu-Ende-Lesen war, was dann? An vielen Stellen des Buches habe ich mich mit meiner persönlichen Lehrerfahrung wiedererkannt: Gruschka beschreibt allem voran das Misslingen didaktischer Bemühungen – und ja: In der Praxis misslingt viel – auch in meiner eigenen. Ich tröste mich dann oft darüber hinweg, indem ich mir sage: 100 Prozent „Erfolg“ (Studierende entwickeln Interesse, denken mit, werden produktiv) geht nicht, 80 wahrscheinlich auch nicht, aber wenn ich die Hälfte zumindest ein wenig mitnehme und fünf Prozent tatsächlich einen Anker für eigene Bildungsprozesse finden, dann war es ja bereits nicht vergebens. An anderen Stellen des Buches sind mir Ideen für Begründungen von didaktischen Entscheidungen in den Sinn gekommen, die ich bisher eher intuitiv getroffen hatte: Diese Begründungen haben unter anderem mit der Langfristigkeit und Prozesshaftigkeit von Lernprozessen zu tun und äußern sich in Phasen-Entscheidungen, die z.B. zu Beginn in Richtung starker Anleitung und Vorgaben gehen (mit Bitte an die Lernenden, einem zu vertrauen und sich deswegen hinein zu begeben) und mit der Zeit die Freiräume vergrößern und dann vor allem auch die Ergebnisse offen lassen (mit Hinweis an die Lernenden, dass ich ihnen genau nicht sagen kann, was am Ende resultiert). Ein solches didaktisches Denken in Phasen wird in Gruschkas Buch kaum thematisiert. Vielleicht gerade weil es fehlt, ist es mir aufgefallen.

Kurz: Ich bin in weiten Teilen NICHT Gruschkas Meinung, finde seine Kritik stellenweise inkonsistent und kann mich nicht damit anfreunden, die Bemühungen anderer Wissenschaftler so kompromisslos und dann leider auch alternativlos zu kritisieren. Dennoch bin ich froh, dass er das Buch geschrieben hat und ich es gelesen habe, und wenn er jetzt sagt „genau das war meine Absicht“, dann schließt sich wahrscheinlich der Kreis der in diesem Buch gewählten Form der Argumentation.

Beeindruckt hat mich am Ende noch eines: In seinem Nachwort bedankt sich Gruschka unter anderem bei Hilbert Meyer, dessen Bücher in mehreren Kapiteln geradezu auseinandergenommen werden („Meyers Auflösung der Didaktik in Didaktik kann als Prototyp enthemmter Didaktisierung begriffen werden“, S. 347). Er schreibt: „Meinem Freund Hilbert Meyer bin ich zu Dank verpflichtet. Denn nun schon über 20 Jahre hinweg bietet er durch seine Uneinsichtigkeit den prominentesten Anlass für meine Kritik.“ Was für eine Freundschaft, die das aushält! Aber wahrscheinlich kann Hilbert Meyer mit Blick auf die Absatzzahlen seiner Bücher im Vergleich zu Büchern wie „Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung“ milde über jede Kritik hinweg lächeln.

Wer eine inhaltliche Zusammenfassung sucht, den kann ich auf die folgende Rezension verweisen

Immer wieder neu erfunden

Manchmal hat man ja wirklich das Gefühl, die Zeit bleibt stehen. Eher durch Zufall bin ich auf einen kurzen Text von Karl-Heinz- Flechsig zur Hochschuldidaktik gestoßen. Der Text ist von 1975 (hier online). Flechsig wendet darin seine Handlungsebenen, die er für die Allgemeine Didaktik postuliert, auf die Hochschule an, nämlich (1) die organisatorischen, finanzielle, personellen und konzeptionellen Rahmenbedingungen der Hochschule, (2) die Studiengänge und Studienmodelle, (3) die Phasen oder Teilbereiche von Studiengängen (was man heute vielleicht als die Modulebene bezeichnen könnte), (4) die Lehrveranstaltungen und (5) die konkreten Lernsituationen. Das eigentlich Interessante an dem Text sind die analysierten Probleme und Postulate, die in diesem Zusammenhang vor immerhin fast 40 Jahren formuliert wurden: So wird z.B. beklagt, dass die erforderlichen Aktivitäten auf den genannten Handlungsebenen oft „unverbunden“ laufen, „von unterschiedlichen Personen und Institutionen, die oft ohne wechselseitige Information und häufig mit nur begrenzter Kompetenz und Legitimation ausgestattet laufen“ (S. 3). Wenn ich mir vorstelle, welche Macht „Bologna- und/oder Evaluationsbeauftragte“ in Universitäten sowie Akkreditierungsagenturen auf nahezu allen Handlungsebenen haben, erscheinen einem solche Sätze höchst aktuell. Zwischen den Ebenen, so Flechsig, gäbe es zahlreiche „Diskontinuitäten und Widersprüche“ (S. 5), etwa wenn organisatorische Reformen in keiner Weise mit Veränderungen konkreter Lernsituationen korrespondieren. Auch das liest sich wie für heute geschrieben. Man denke nur an die überall zu lesende Kompetenzorientierung bei der Modulbeschreibung einerseits und Multiple Choice-Klausuren wegen Überlast andererseits – was nur ein Beispiel für Widersprüche und Diskontinuitäten von vielen ist. Eine weitere Forderung Flechsigs besteht darin, Hochschuldidaktik i.w.S. zu verstehen und darin politische, didaktische und forschungsintensive Bereiche zu subsumieren, wobei auffällt, dass eine Leerstelle bei der „didaktischen Forschung“ besteht, die man offenbar schon 1975 nicht so recht als Bildungsforschung ansehen wollte. Zudem warnt Flechsig davor, Fragen zu didaktischen Methoden (bzw. „Unterrichtstechnologie“) an den Hochschulen nicht zu reinen „Servicefunktionen“ verkommen zu lassen – ein Schicksal, das unter anderem viele E-Learning-Zentren längst erlitten haben.

Bereits im vorletzten und letzten Jahr bin ich anlässlich des Themas Assessment und forschendes Lernen über Schriften aus den 1970er Jahren gestolpert (siehe z.B. hier) und habe mich verwundert gefragt, warum wir uns offenbar über mehrere Jahrzehnte lang quasi im Kreis gedreht haben: Wie kann es sein, dass man so vieles immer wieder neu erfindet? Wie kann es sein, dass neue Vokabeln immer wieder erfolgreich suggerieren, es gäbe auch inhaltlich etwas Neues? Und warum kommt vor allem die Didaktik irgendwie nicht so recht aus ihrem nach wie vor belächelten Loch?

Wo sind die kreativen Intellektuellen?

Seit einigen Tagen liegt die Veröffentlichung der Studie „Der Wandel des Hochschullehrerberufs im internationalen Vergleich” auf meinem Schreibtisch, die ich endlich gelesen habe. Mandy hat (hier) bereits ausführlicher einige – speziell für Fragen der Lehre interessante – Resultate zitiert (sie war schneller als ich ;-)), was ich von daher an der Stelle nicht zu wiederholen brauche. Seltsam ist, dass zwischen der Veröffentlichung und der Befragung selbst vier Jahre liegen. Ich vermute, dass sich in diesen vier Jahren wieder einiges verändert hat. In der Summe kommt die Studie beim Thema Lehre zu dem Schluss, dass deutsche Hochschullehrer im internationalen Vergleich verschiedene Defizite aufweisen und allem voran von den digitalen Medien zur Verbesserung der Lehre eher wenig wissen wollen – also: sehr wenig! Auch die Entwicklung von Lehrmaterialien scheint nur eine Minderheit der Lehrenden an deutschen Hochschulen zu interessieren. Innovationsfreude in Sachen Studiengangentwicklung – so die Interpretation der Autoren der Studie – sei wenig vorhanden. Außerdem ein Ergebnis: Allenfalls ein Drittel der Hochschullehrer sehen einen Einfluss von Lehrevaluationen auf ihre Lehre in dem Sinne, dass diese zu Verbesserungen führen. Okay – „nur“ ein Drittel, aber ich war fast überrascht, dass es immerhin ein Drittel ist: So wie viele Lehrevaluationen erfolgen – mit oft unpassenden standardisierten Items und in Form einer Zwangsmaßnahme – finde ich dieses Ergebnis fast schon positiv.

Überhaupt sollte man den Zusammenhang zwischen Lehrqualität und der Art der Evaluation genauer betrachten. Meiner Ansicht nach wirken sich Evaluationen, wenn sie als zentralistisches Kontrollinstrument verstanden und durchgeführt werden, eher kontraproduktiv auf die Lust der Lehrenden aus, „innovationsfreudiger“ zu werden – was ja die Studie als Mangel feststellt. In manchen Unis wähnt man sich schon im Besitz eines „Konzepts zur Lehrqualität“, wenn man sich für ein technisches Erhebungsinstrument entschieden hat. Auf den Trend, hier mehr mit Vorgaben statt mit Vertrauen auf die Expertise der Hochschullehrer zu arbeiten, weisen auch die Autoren der Studie hin, wenn sie auf folgende Veränderung der Rahmenbedingungen für Hochschullehrer aufmerksam machen: „Mehr Dispositionsspielräume für die einzelnen Hochschulen gegenüber staatlichen Vorgaben, mehr Evaluation, ein machtvolleres Hochschulmanagement, mehr Anreiz- und Sanktionsmechanismen, sowie stärkere Erwartungen, die Qualität, Relevanz und Effektivität der wissenschaftlichen Arbeit zu demonstrieren.“ Wer hier ein gewisses Unbehagen spürt, dem kann ich die Abschiedsvorlesung von Heiner Keupp aus dem Jahr 2008 (also einem Jahr nach der Befragung) empfehlen, der es gut versteht, dieses Unbehagen auf den Punkt zu bringen – allem voran mit dem Hinweis, dass die Universität als Teil eines „marktradikalen Gesellschäftsmodells“ immer mehr „die Figur des kreativen Intellektuellen“ ersetzt, „der seine gedankliche Unabhängigkeit gerade dadurch erweist, dass er nicht von fremdgesteuerten Geldströmen abhängig ist“ (Keupp, 2008, S. 8). Vielleicht hätte man in die Studie zum Hochschullehrerberuf auch eine Frage in diese Richtung einbauen können – nämlich, ob und inwieweit sich Hochschullehrer noch als unabhängig empfinden und an einem Ort wähnen, der „gesellschaftliche Verantwortung übernimmt“ und an dem „die wichtigsten Zukunftsthemen unserer globalen Welt“ (Keupp, 2008, S. 13 f.) öffentlich und kritisch diskutiert werden.

Autonomie der Zerstörung

Eine Universität wehrt sich – statt sich zu beugen und aus einer Angstmotivation heraus im vorauseilenden Gehorsam umzusetzen, was aus unerfindlichen Gründen gerade mal wieder postuliert oder angekündigt wird: Die Universität Hamburg – schon vor ca. knapp zwei Jahren in den Schlagzeilen, als die Dekane den Aufstand gegen das Präsidium wagten (erfolgreich!) – nimmt öffentlich (hier) zu den angekündigten Kürzungen von bis zu 10 Prozent Stellung. Die Folge wären, so wird vorgerechnet, ein „Wegfall von 60 Professuren (unter der Annahme, dass eine Professur inkl. Ausstattung im Schnitt etwa 300.000 EUR kostet)“ und die „Schließung von bis zu 30 kleinen und mittelgroßen Fächern.“ Große Worte (z.B. in diversen Reden von Leitungspersonen an Unis und Verbänden) kennt man ja, aber erfreulicherweise wurden gleich ganz konkrete Maßnahmen beschlossen; u.a. wird die Entwicklung eines Internationalisierungskonzepts ebenso ausgesetzt wie die des Strukturentwicklungsplans; auch Veranstaltungsbeteiligungen der Uni werden abgesagt. Da hat man das Gefühl, dass die Universitätsleitung hinter ihren Mitgliedern steht und nicht nur Handlanger der Politik ist. Gut so! Die Begründung für den Widerstand ist knapp und nachvollziehbar: „Das Präsidium tritt für eine Autonomie der Gestaltung ein, nicht für eine Autonomie der Zerstörung.“

Auf die Füße getreten

76 Kommentare in zwei Tagen auf einen ZEIT-Artikel – das ist durchaus beachtlich. Geschafft hat das ein Beitrag über die Studie ZEITLast, deren Ergebnisse nun in einem Buch erscheinen (Rolf Schulmeister, Christiane Metzger (Hrsg.): Die Workload im Bachelor: Zeitbudget und Studierverhalten. Eine empirische Studie. Waxmann 2011). ZEITLast möchte Transparenz in den tatsächlichen Zeitaufwand Studierender bringen und den vielen Vermutungen vor allem zum Zeitstress der Studierenden in den neuen Studiengängen objektive Zahlen entgegenhalten. Anders als viele andere Studien schätzen die Studienteilnehmer/innen ihren Zeitaufwand hier nicht retrospektiv, sondern erfassen laufend, wofür sie wie viel Zeit aufwänden.

Der Beitrag ist – wie das journalistische Texte zu speziellen Themen oft sind – stellenweise etwas unglücklich formuliert, enthält auch Fehler (Rolf Schulmeister wird zum Informatiker gemacht) und ist durch die Art der Darstellung schon etwas darauf angelegt zu polarisieren. Der wohl intendierte Effekt wurde denn auch erreicht – teilweise zeugen die zahlreichen Kommentare von erzürnten Reaktionen. Es wäre sicher ganz interessant, die Beiträge inhaltsanalytisch auszuwerten: Manche rechnen da ihr eigenes Zeitkonto nach, viele verweisen auf die (in der Studie ebenfalls festgestellten) Unterschiede zwischen Disziplinen und Fächern, einige bemängeln die Studienmethode (über die der Beitrag allerdings gar nicht viel sagt), ein paar machen auf den Unterschied zwischen Zeiterleben und faktisch gebrauchter Zeit aufmerksam (ein Punkt, der auch aus meiner Sicht sehr interessant ist) und sehr viele fühlen sich offenbar persönlich angesprochen und in der Folge massiv auf die Füße getreten.

Unabhängig von diesem Beitrag im Speziellen frage ich mich bei Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln über wissenschaftliche Ergebnisse oder Ereignisse (siehe auch die Plagiatsaffäre hier, hier und hier in diesem Blog) oft, ob die Relation zwischen dem damit erzielten Nutzen (breite Aufmerksamkeit für ein Thema) und dem potenziell angerichteten Schaden (verkürzte und/oder verfälschte – weil nicht richtig verstandene – Aussagen) noch ausreichend ausgewogen ist. Ich bin ja der Meinung, dass Wissenschaftler selbst mehr für die Verbreitung gesellschaftlich relevanter Erkenntnisse tun könnten und dies nicht nur den Journalisten überlassen sollten – digitale Medien haben dies immerhin sehr erleichtert. Allerdings – das liegt natürlich auf der Hand – erreicht man damit nach wie vor niemals eine solche Breite wie ein Beitrag etwa in Spiegel oder Zeit online. Aber drüber nachdenken könnte man ja mal.

Studierende als Untergattung des Schwamms

„Mach was du willst …. und da habe ich eigentlich erst gelernt zu studieren“ – so beginnt ein Film zum Thema Hochschullehre mit dem Titel LehreN (das Projekt LehreN ist ein Gemeinschaftsprojekt der Alfred Töpfer Stiftung, der Universität Hamburg und der Nordmetall Stiftung). Der Film soll die Ergebnisse aus mehreren Workshops (mit Beteiligten aus einem Netzwerk aus Hochschullehre, -leitung, -management, und -didaktik) kompakt zusammenfassen und vor allem die Entwicklungspotentiale für die Lehre an den Hochschulen deutlich machen. Das Eingangszitat stammt von Ulrich Wickert, der von seinen Studienerfahrungen berichtet, und ob das so glücklich gewählt ist, wenn man auf die Notwendigkeit hochschuldidaktischer Bemühungen hinweisen will, sei dahingestellt (angesichts der vielen „Bologna-Zwänge“ freut man sich erst einmal über solche Aussagen – auch ich – und nickt zustimmend, aber wenn man es zu Ende denkt …). Auch Schüler kommen im Film kurz zu Wort: „In der Schule ist alles kurzlebig. Man bearbeitet ein Thema zwei Wochen lang und dann kommt das nächste. Wenn man einfach nur auswendig lernt, reproduziert und danach wieder vergisst, kommt man damit sehr weit in der Schule.“ Der Schüler, der diesen traurigen Umstand treffend feststellt, hofft auf die Hochschule – dass es dort anders sein möge. Anders aber könne es langfristig nur werden, so Dieter Lenzen im Film, wenn bei Lehrenden und Lernenden die Bereitschaft da ist, Experimente zu machen. Recht hat er (aus meiner Sicht): Nur haben das Akkreditierungsagenturen und Ministerien noch nicht verstanden, denn: Kontrollwahn lässt sich mit Experimenten in der Lehre genau nicht vereinbaren. Nicht vereinbar wäre dies auch mit der Haltung, dass Studierende eine „Untergattung des Schwamms“ sind, die „Wissen in großen Mengen aufsaugen, um es bei Bedarf wieder abzusondern“ – so die Comic-Darstellung im Film. Wollen wir hoffen, dass alle die Ironie in dieser Darstellung auch klar erkennen.

Schluss mit professionellem Dilettantismus

Geschichten sind eingängig und wenn sie auch noch wahr sind, regen sie besonders zum Nachdenken an. Ich hätte da eine Geschichte:

„Wie andere Produktionsbetriebe auch, war die Schuhindustrie in der Sowjetunion [Anm.: zur Zeit des Prager Frühlings] durch geringe Arbeitsproduktivität und eine gewaltige Ressourcenverschwendung geprägt. Niemand hatte einen Anreiz, sich Mühe zu geben […]. Die nächstliegende Lösung, nämlich die Einführung von Märkten, war aus ideologischen Gründen nicht möglich. So blieben nur künstlich inszenierte Wettbewerbe, um bestimmte positive Effekte einer Marktwirtschaft zu simulieren … Also begannen die Wirtschaftsexperten mit der Suche nach Leistungskriterien, um deren Erfüllung sich die Arbeiter dann einen Wettbewerb liefern sollten. Für die Schuhindustrie kamen die Experten auf die brillante Idee, einen Wettbewerb um möglichst hohen Materialverbrauch zu veranstalten und den besten Arbeitern dann entsprechende ´Leistungsprämien´ zu zahlen. Der Gedanke hinter dieser Tonnenideologie ist durchaus nachvollziehbar. Wer mehr Schuhe produziert, braucht mehr Material, dessen Verbrauch sich wiederum in Gewichtseinheiten messen lässt. Doch das Resultat war anders, als die Experten sich dies vorgestellt hatten. Im Verlauf weniger Jahre wurden die Schuhe immer schwerer. Die zuvor nur wenig motivierten Arbeiter in der Schuhindustrie zeigten sich plötzlich innovativ und entwickelten kontinuierlich neue Modelle, bei denen sie noch mehr Material verwenden konnten“ (Binswanger, 2010, S. 47 f.).

Wem kommen da nicht sofort analoge, aktuelle Beispiele aus dem eigenen Bereich der Forschung und Lehre in den Sinn? Künstlich inszenierte Wettbewerbe haben sich ja geradezu zum Leitparadigma der Hochschulpolitik und Hochschulen entwickelt. Auch dazu weiß Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre, in seinem Buch „Sinnlose Wettbewerbe. Warum wir immer mehr Unsinn produzieren“ (2010 im Herder Verlag erscheinen) zu berichten. Werner Hartmann hat mich auf das Buch aufmerksam gemacht und ich habe es mit Gewinn gelesen.

Insbesondere der erste Teil war für mich sehr interessant: Hier zeichnet Binswanger anhand anschaulicher Beispiele die Genese der heute allgegenwärtigen Marktgläubigkeit nach und beschreibt die Illusionen, die mit künstlichen Wettbewerben ohne echten Markt geschürt werden. Zudem begründet er nachvollziehbar, dass man qualitative Leistungen nicht mit Kennzahlen messen kann, und warum man, wenn man es dennoch macht, Unmengen von Bürokratie und perverses Verhalten erzeugt. Im zweiten Teil wendet er seine Überlegungen auf die Bereiche Wissenschaft, Bildung und Gesundheitswesen an. Seine Folgerungen am Ende des Buches sind entsprechend konsequent. So bezeichnet es Binswanger (2010, S. 216) z.B. als kontraproduktiv, „Wissenschaftler, Professoren, Lehrer oder Ärzte unter den Generalverdacht der Leistungsverweigerung zu stellen und in jedem ein potentiell schwarzes Schaf zu vermuten, aus dem man eine gute Leistung mit einem Zuckerbrot herauskitzeln oder mit der Peitsche herausprügeln muss.“ Er plädiert dafür, wieder subjektive Verantwortung zu übernehmen, statt sich auf pseudo-objektive Zahlen zu verlassen: „Ein begründetes subjektives Urteil kann man nur abgeben, wenn man über das zu beurteilende Individuum und dessen inhaltliche Tätigkeit Bescheid weiß. Doch dieser Mehraufwand lohnt sich. Die Verdrängung des Inhalts durch Form ist nämlich eines der Hauptprobleme der Verwendung von ´objektiven Kennzahlen´. Immer mehr ´Leistungen´ und ´Qualitäten´ werden gemessen, evaluiert und beurteilt, ohne dass irgendjemand Ahnung hat, was sich inhaltlich dahinter verbirgt. Und mit diesem professionellen Dilettantismus gilt es aufzuhören“ (Binswanger, 2010, S. 223). Man ist angesichts solcher Zitate in Versuchung, das Buch allen Unileitungen zu empfehlen.

Über den Tag hinaus denken

„Oberstes Gebot der Kommunikation in den Wissenschaften ist es, Wissen genau und unmissverständlich zu kommunizieren. Texte stellen dabei eine Art Transportmittel für Wissen dar. Das Wissen muss im Text so ´verpackt´ sein, dass es den Transport heil übersteht und vom Empfänger wieder dem Text entnommen werden kann“ (Kruse, 2010, S. 57). Dass es viel Scherben auf diesem Transport geben kann, ist mir in den letzten Tagen wieder so richtig bewusst geworden, als ich etliche Hausarbeiten von Studierenden gelesen, kommentiert und bewertet habe. Nicht bei allen, aber bei vielen dieser Arbeiten stehe ich ratlos vor einzelnen Sätzen, Abschnitten oder ganzen Kapiteln und frage mich, was wohl der eigentliche „Transportgegenstand“ war und wie es sein kann, dass ich so viele Verständnisprobleme allein auf der sprachlichen Ebene habe. Ich sitze da mitunter vor Sätzen, die ich aufschlüsseln muss wie einen lateinischen Text, erahne dann allenfalls die Botschaft, die da „verpackt“ wurde, und frage mich natürlich: Woher kommt das? Die meisten dieser Studierenden können z.B. bei mündlichen Präsentationen doch einigermaßen schlüssig formulieren, einige auch argumentieren. Die Schriftform scheint dann wie ein Katalysator für eine Entstellung dessen zu wirken, was man mitteilen möchte. Auch bei Doktoranden gibt es das bisweilen: Schachtelsätze, Nominalstil und neutrale sowie Passivkonstruktionen scheinen eine wissenschaftliche Verpackung zu signalisieren. Schlimm ist dann nur, wenn man nach dem mühevollen Auspacken erkennen muss, dass das Innere leer ist. Neben diesen Sprachproblemen, die aus meiner Sicht massiv unterschätzt werden, sind es natürlich die bekannten Hürden, über die Studierende stolpern: keine genaue Eingrenzung des Themas, zu wenig oder zu diffuse Recherche, handwerkliche Fehler beim Zitieren und Schwierigkeiten, eine klare Struktur und Argumentationslinie zu finden. Ich bemühe mich in der Regel, ausführlich Rückmeldung zu geben – immer mit dem Bewusstsein, dass dieses Feedback womöglich gar nicht gelesen, oder aber nicht verstanden, oder aber emotional abgelehnt wird (siehe zu diesem Problem auch die interessante Diskussion in Christians Blog: hier).

Nun ist mir vor kurzem ein dazu wunderbar passendes Buch in die Hände gefallen: Lesen und Schreiben von Otto Kruse, das sich an Studienanfänger richtet. Ich habe es gelesen und kann es JEDEM empfehlen – Studierenden wie auch Doktoranden (!), weil es auf einfache und klare Weise deutlich macht, dass und wie Lesen und Schreiben integraler Bestandteil jeder Wissenschaft sind, geübt werden wollen und zum Denken dazugehören! „Ich muss das jetzt nur noch runterschreiben“ – diesen Satz höre ich manchmal auch von Doktoranden und genau das deutet auf ein fundamentales Missverständnis der Funktion speziell des Schreibens für wissenschaftliches Denken und Handeln hin. Kruse bezeichnet es als „epistemisches Schreiben“ (dazu gibt es auch einen Blogbeitrag von Peter Baumgartner: hier), was ich hier meine: also ein „Schreiben zur Wissensgewinnung“. Otto Kruse gibt den Studierenden gegen Ende seines Buches einen guten Rat, den ich nur unterstreichen kann: „Wenn Sie lernen wollen, kompetent mit Sprache in Wissenschaft und Beruf umzugehen, müssen Sie über den Tag hinaus denken. Literalität ist nicht einfach Erwerb einiger Teilkompetenzen, die sich dann zu perfekter Handlungsfähigkeit verbinden, sondern Literalität ist integraler Bestandteil Ihrer intellektuellen und fachlichen Entwicklung. Lesen und Schreiben trainieren Selbständigkeit im Umgang mit Wissen, sie verhelfen Ihnen zur Entwicklung eigener Expertise und verlangen von Ihnen, eigene Standpunkte zu vertreten wie auch die anderer zu erkennen“ (S. 152).

Antiintellektueller Wissenschaftspopulist

Sehr schön – ich würde mir das an die Bürotür schreiben: „antiintellktueller Wissenschaftspopulist“ – so die Bezeichnung, die Christian Spannagel laut eigener Aussage bereits (unter anderem) erhalten hat. In welchem Zusammenhang er das sagt, kann man sich in einem sehenswerten kurzen Film anschauen (hier), der bereits durch diverse Blogs wandert. „Mut haben“ und „Mut entwickeln“ spielt als (berufliches und persönliches) Thema in dem Film bzw. in Christians Aussagen eine große Rolle – was freilich nicht verwundert, wenn man seine Blogbeiträge kennt. Aus meiner Sicht treffend ist auch der Satz: „Wenn man sehr präsent ist im Web 2.0 und ´öffentliche Wissenschaft´ betreibt, dann darf man zu allererst mal sich selbst nicht allzu ernst nehmen“. Vielleicht ist das der Grund, warum es so vergleichsweise wenige bloggende Professoren gibt? 😉 Und: „Man darf keine Angst vor Fehlern haben“. @Christian: da gebe ich dir Recht!